Globalisierung als Humanitäre Herausforderung 5: »Staatenlosigkeit ist eine Menschenrechtsverletzung«

 

Juliana Fischer: Das UN Flüchtlingswerk nimmt an, dass etwa 10 Millionen Menschen weltweit staatenlos sind. Wie definiert sich Staatenlosigkeit?

Dr. Petra Gümplová: "Eine staatenlose Person besitzt keine Nationalität. Einige Menschen werden staatenlos geboren, andere werden im Laufe ihres Lebens staatenlos. Traurigerweise verbleiben staatenlose Menschen im Gegensatz zu geflüchteten oder vertriebenen Menschen in gewisser Weise unbeachtet und ihrer Notlage wird sich nur selten angenommen."

Juliana Fischer: Wie wird denn ein Mensch staatenlos?

Dr. Petra Gümplová: "Einige Mechanismen sind dafür verantwortlich, dass Menschen staatenlos geboren werden oder ihre Nationalität verlieren. Die meisten Staaten erlauben nicht, dass Kinder, welche auf ihrem Staatsgebiet geboren werden, die entsprechende Staatsangehörigkeit annehmen, auch wenn diese stattdessen staatenlos werden. Tatsächlich verfügen über die Hälfte aller Staaten nur über unzulängliche gesetzliche Maßnahmen zur Gewährleistung von Staatsbürgerschaft für auf ihrem Territorium staatenlos geborene Kinder.

Des Weiteren verfügt eine relativ große Zahl an Ländern, unter anderen auch Syrien und der Libanon, über Geschlechter diskriminierende Gesetze. Diese verhindern, dass Mütter ihre Nationalität an ihre Kinder weitergeben. Hierdurch werden Kinder staatenlos, wenn der Vater selbst staatenlos, unbekannt ist, oder nicht gewillt ist, seine Nationalität an das Kind weiterzugeben. Dies ist ein besonders drängendes Problem in kriegsgebeutelten Gesellschaften wie der Syriens, wo viele Väter abwesend sind und viele Menschen sich auf der Flucht befinden.Ein weiterer Mechanismus, welcher Staatenlosigkeit produziert, ist das Entstehen neuer Staaten und die Veränderung von Grenzen. Hiervon gibt tatsächlich einige Fälle in der jüngeren Geschichte. Erwähnenswert sind europäische Beispiele wie Lettland oder Estland. Etwa 12% der lettischen Bevölkerung verbleiben seit der Unabhängigkeit im Jahr 1990 staatenlos, weil damals nur denjenigen die Staatsbürgerschaft gewährt wurde, welche die Präsenz ihrer Familie in Lettland vor der Sowjetischen Besetzung im Jahr 1940 nachweisen konnten. Jenen, welche dies nicht beweisen konnten, verblieb nur die Annahme der lettischen Staatsbürgerschaft durch ein sehr anspruchsvolles Verfahren, welches das Erlernen der lettischen Sprache beinhaltete. Für viele Menschen bleibt dies nach wie vor eine große Hürde. Letztlich gibt es aber auch einige Fälle, in welchen Regierungen bestimmten Gruppierungen durch Gesetzesänderungen die Staatsbürgerschaft entzogen haben. Das Staatsbürgerschaftsgesetz von 1982 in Myanmar beispielsweise machte 800.000 der in Myanmar lebenden Rohingya staatenlos."

Juliana Fischer: Wie wirkt sich Staatenlosigkeit auf das alltägliche Leben der Betroffenen aus?

Dr. Petra Gümplová: "Staatenlosigkeit bedeutet Entbehrung. Für staatenlose Menschen ist der Zugang zu den meisten Grundrechten, Schutz und Ressourcen, die mit Staatsbürgerschaft verbunden sind, versperrt. Staatenlose Menschen leben in einem rechtlichen Vakuum. Sie haben keinen Zugang zu den meisten Grundrechten und Leistungen wie Bildung oder Gesundheitsfürsorge. Oft sind sie nicht in der Lage, rechtlich gegen Gewalt, Diskriminierung oder Missbrauch vorzugehen. Sie sind meist mit unlösbaren Problemen hinsichtlich von Eigentumsrechten und dem Sorgerecht für gemeinsame Kinder nach dem Tod eines Ehepartners oder nach einer Scheidung konfrontiert. Staatenlose Menschen fühlen sich daher oft marginalisiert und von der Gesellschaft ausgeschlossen. Staatenlosigkeit verringert die Chancen und Aussichten ihres Lebens. Beispielsweise fühlen sich Staatenlose oft entmutigt zu heiraten oder eine Familie zu gründen, weil sie ihren Status als staatenlos an ihre Kinder weitergeben würden. Staatenlose Menschen werden oft, ähnlich wie undokumentierte Migranten, in die Schattenwirtschaft getrieben, was sie verletzbar gegenüber Missbrauch, Betrug oder Menschenhandel macht. Werden sie einmal Teil eines kriminellen Netzwerkes sinken ihre Chancen auf das Erlangen eines legalen Aufenthaltsstatus."

Juliana Fischer: Müssen hinsichtlich staatenlos geborener Kindern besondere Herausforderungen bedacht werden?

Dr. Petra Gümplová: "Dass so viele Kinder staatenlos sind, ist ein äußerst unglücklicher Umstand. Staatenlos geboren zu werden beeinträchtigt grundlegend das Aufwachsen von Kindern, ihren Zugang zu medizinischen Dienstleistungen, ihren Zugang zu Bildung, ihre Chancen auf dem Arbeitsmarkt, sowie den Zugang zu staatlichen Dienstleistungen. Die dauerhafte Marginalisierung kann das Zugehörigkeitsgefühl von Kindern und ihre Versuche, sich in die Gesellschaft einzufügen, stören."

Juliana Fischer: Artikel 15 der Universellen Erklärung der Menschenrechte stellt fest, dass „jeder Mensch das Recht auf eine Staatsangehörigkeit hat“. Wie ist Staatenlosigkeit aus dieser Perspektive zu beurteilen?

Dr. Petra Gümplová: "Staatenlosigkeit ist eine schwerwiegende Menschenrechtsverletzung. Die Anzahl rechtlicher Instrumente, welche Staatenlosigkeit adressieren und das Recht eines Jeden auf Staatsbürgerschaft bekräftigen, ist beeindruckend. Es gibt die globalen und regionalen Menschenrechts- Instrumente und spezifische juristische Instrumente wie die Convention relating to the Status of Stateless Persons und die Convention on the Reduction of Statelessness. Leider wurde Staatenlosigkeit jedoch nie als die schwerwiegendste und dringlichste Menschenrechtsverletzung betrachtet. Und noch viel frustrierender ist, dass das Problem staatenloser Kinder nach wie vor nicht gelöst wurde. Trotz der Selbstverpflichtung beinahe aller Staaten, die Staatenlosigkeit von Kindern zu beenden, können die Staaten kaum Fortschritt bei der Lösung des Problems vorweisen."

Juliana Fischer: Können Sie diese Kluft zwischen rhetorischer Verpflichtung und mangelhaftem Handeln erklären?

Dr. Petra Gümplová: "Staatenlosigkeit ist eines dieser spezifischen Gebiete, in welchem Souveränitätsansprüche mit menschenrechtlichen Verpflichtungen in Konflikt geraten. Die Bewegungen von Menschen über nationale Grenzen hinweg zu kontrollieren und zu definieren, wer unter welchen Bedingungen Staatsbürger sein darf, wurde als wichtigstes Privileg souveräner Staaten betrachtet. Angesichts massiver Migrationsbewegungen und populistischer Bewegungen gegen Geflüchtete, betrachten Staaten ihre Macht, Staatsbürgerschaft zu gewähren als ihr alleiniges Recht, heute mehr denn je. Und das behindert natürlich eine Lösung, weil diese letztlich innerhalb staatlicher Strukturen liegen muss."

Juliana Fischer: Beispielsweise durch das Garantieren von Staatsbürgerschaft für Kinder, welche auf dem jeweiligen Staatsgebiet geboren wurden und ansonsten staatenlos würden?

Dr. Petra Gümplová: "Ja, das ist eine der naheliegenden Lösungen. Wir könnten einen großen Fortschritt erzielen, wenn wir es Kindern ermöglichen die Nationalität des Landes, in welchem sie geboren werden, anzunehmen, wenn sie ansonsten staatenlos wären. Eine andere Lösung ist es ein Verfahren zur Anerkennung des Status staatenloser Menschen in Ländern einzuführen beziehungsweise diese zu vereinfachen, wenn sie bereits existieren. Und selbstverständlich müssen Geschlechter diskriminierende Gesetze, welche Mütter an der Weitergabe ihrer Nationalität an ihre Kinder hindern, reformiert werden. Außerdem müssen Gesetze und Praktiken beendet werden, welche bestimmten ethnischen Gruppierungen die Staatsbürgerschaft entziehen."

Juliana Fischer: Kann Staatenlosigkeit durch globale Kooperationsbemühungen beendet warden?

Dr. Petra Gümplová: "Wenn wir mögliche Lösungen gegen Staatenlosigkeit und die Schwierigkeiten bei deren Umsetzung betrachten wollen, müssen wir unseren Blick auf die EU richten. Die EU ist eine Gruppe von Staaten, die bei der Gewährung von Menschenrechten für ihre Bürger beinahe perfekt agiert und in der Schaffung intergouvernementaler Kooperation voraus ging. Leider jedoch hat es die EU nicht geschafft, das Problem der Staatenlosigkeit zu lösen und weist hier keinen einheitlichen Ansatz vor. Die meisten europäischen Staaten vergeben den auf ihrem Staatsgebiet geborenen Kindern keine Staatsbürgerschaft nur aufgrund ihrer dortigen Geburt. Nur wenige Staaten verfügen über Verfahren zur Anerkennung staatenloser Personen. Lediglich Großbritannien, Italien und Lettland verfügen über formelle Anerkennungsverfahren. Großbritannien führte 2013 ein Programm zur Feststellung von Staatenlosigkeit ein, dieses legt jedoch den Antragstellern eine hohe Beweishürde auf. Es verlangt von den Staatenlosen z.B. die Vorlage eines gültigen Passes. Andere Programme erwarten von den Antragsstellern einen legalen Aufenthaltstitel, welcher allerdings für Staatenlose meist aufgrund ihres Status nicht erreichbar ist. Dass mehrere hundert Tausend Menschen staatenlos in der EU leben, ist tragisch. Europäische Staaten sind, einzeln oder gemeinschaftlich Parteien internationalen Menschenrechtsverträge und der Konvention über Staatenlosigkeit und sie haben eine besondere Verantwortung in der Verteidigung dieser Normen. Es ist bedauernswert, dass die EU hier ihre moralischen und juristischen Pflichten nicht erfüllt."

Juliana Fischer: Gibt es denn positive Entwicklungen, die Anlass zur Hoffnung geben? 

Dr. Petra Gümplová: "Es gibt zumindest positive Trends, die Anlass zur Hoffnung geben könnten. Beispielsweise wurden im Jahr 2008 in Bangladesch nach Beschluss des Höchsten Gerichts 300.000 bis dahin staatenlose Angehörige der Urdu-sprechenden Minderheit als Staatsbürger anerkannt. Vietnam hat ebenfalls beschlossen die Notlage staatenloser, ehemaliger Geflüchteter aus Kambodscha zu beenden. Seit 2009 wurden mehr als 60.000 ehemalige Sowjetische Staatsbürger zu Staatsbürgern Kirgisistans, während 15.000 die Turkmenische Staatsbürgerschaft annahmen. Auch die Elfenbeinküste änderte ihre Gesetze in 2013, um die Annahme von Staatsbürgerschaft durch einen vereinfachten Antragsprozess zu erleichtern, was vielen der dort lebenden 700.000 staatenloser Erwerb der Staatsbürgerschaft ermöglicht. Nun ist die Europäische Union am Zug für Reformen."

Dr Petra Gümplová ist Fellow am Kolleg. Ihre Forschungsinteressen liegen, unter anderen, im Internationalen Recht und Menschenrechten, Theorien und Praktiken staatlicher Souveränität und Globalisierungstheorien.