Globalisierung als humanitäre Herausforderung 1: Der Mittelmeerraum

aussagen als über tatsächliche künftige Entwicklungen, im Nachhinein betrachtet [1].
Seine eigentümliche geo-politische und geo-kulturelle Zentralität verdankt der mediterrane Raum einer Struktur, die bereits im Ausgang der Antike eine erste Globalisierung geschaffen hatte, einen Weltinnenraum politischen und kulturellen Austauschs, der bis weit ins europäische Mittelalter um das Mare Nostrum als 360-Grad-Schnittstelle herum organisiert war. Hier entstand mit dem Imperium Romanum auch die erste Supermacht dieser ersten Globalisierung - und ein emporstrebender Herausforderer des damaligen globalen Südens: die arabische Welt.
Wenn man die Qualitäten dieses Raumes geschichtlich betrachtet, so sehen wir heute neben den Ursprüngen der Moderne, von Zivilisation und Fortschritt immer deutlicher eine soziokulturelle Realität, die diesen Raum bis heute kennzeichnet: 'der Mittelmeerraum als ein Ort, an dem unterschiedliche Lebensstile geteilt werden und Werte sich in im Rahmen einer Vielfalt von Loyalitäten und Zugehörigkeiten herausbilden.' [2] Diese Binnendifferenzierung als auch politisch bedeutsame Kompetenz von Gesellschaften war immer wieder herausgefordert durch den Einfall des Fremden, durch welches man die Vielfalt der eigenen Kultur bedroht sah (um es später, mindestens kulturell, zu integrieren). Die Obsession mit einer Domestizierung amorpher Massen, die von außerhalb die staatliche Ordnungen gefährden, hat im Mittelmeerraum eine lange Geschichte. Nicht ganz zufällig hat sich hier das Konzept der Multitude von Machiavelli über Spinoza bis Negri entwickelt, die Masse als Herausforderung staatlicher Souveränität und bürgerlicher Freiheiten zugleich, mithin des Contract Social. [3]
Die Menschen- und Handelsströme der aktuellen Globalisierung nötigen dieses faszinierend lose Gebilde, welches sich als Mittelmeerunion (UfM) einen multilateralen institutionellen Rahmen geschaffen hat, zu Verhandlungen, zur Suche nach politischen Lösungen und zum politischen Konsens. Die Ursachen für aktuelle Herausforderungen liegen oft außerhalb. Wiewohl im globalen Süden verortbar, sind sie durch ökonomische und militärische Aktivitäten des globalen Nordens wesentlich mitversacht, zum dem die Mittelmeeranrainer nicht zählen. Klimatische oder epidemologische und ökonomische Wirkungen in Afrika erzeugen Wanderbewegungen, die ja nicht nur Europa betreffen sondern die Anrainer der arabischen Welt noch weit unmittelbarer. Zugleich erzeugt das maritime Engagement der ausgreifenden chinesischen Wirtschaft eine erhebliche Intensivierung logistischer Transfers im gesamten Mittelmeerraum. Über die persistierende Nord-Süd-Spannung hinaus entwickelt sich das Mittelmeer zum Handlungsraum polyzentrischer Interessen. Es sieht nicht so aus, als könne diese Entwicklung soziale Unterschiede ausgleichen helfen. Im Gegenteil: demografische und technologisch-arbeitsweltliche Entwicklungen kanalisieren einen erheblichen Teil der immigrierenden Jugend in ein Prekariat, dessen sozialer Sprengstoff nicht erst neulich Besorgnis erregt. In dieser Phase äußerer Herausforderungen zeigt sich nun aber auch immer deutlicher, dass das föderale Gebilde 'Europa' politisch nicht sonderlich belastbar scheint. Symptomatisch scheint ein regionales Aufbegehren, das jeweils unterschiedlich motiviert sein mag, aber im Kern als Identitätsdiskurs gesehen werden kann, der danach strebt, der Globalisierung etwas entgegenzusetzen. Nicht jede Form von Regionalismus ist anti-global. Aber Bewegungen für regionale Autonomie scheinen besonders anfällig für isolationistische Argumente identitärer Bewegungen [4].
Doch ist in der gegenwärtigen Lage nicht gerade der Blick über den Tellerrand (Europas, des Mittelmeers) hinaus wichtig? Muss Europa, das seine Werte gerne jenseits der eigenen Grenzen propagiert hat, diese Werte nicht an denen bewähren, die von jenseits dieser Grenzen zu uns kommen? Gunther Hellmann, meint, "wir sollten uns weigern, solch vorgebliche 'Tatsachen'-Beschreibungen zu akzeptieren, die unterstellen, dass Flüchtlinge in irgendeiner Weise unsere europäische Lebensart gefährden." [5] Und Dirk Messner, wir berichteten, fordert seit langem globale Entwicklungen, vor allem in Afrika, stärker in den Zukunftsszenarien Europas zu berücksichtigen. Ein Forschungsprojekt des Kollegs arbeitet an dieser Frage. [6]
Europa, das seit der griechischen Antike jene bürgerlichen Freiheiten, die es nach innen garantierte, an den Rändern verweigert hat, geht mit seinen Widersprüchen in die nächste Runde. Doch nicht nur Europa. Der Mittelmeerraum als komplexer politischer und kultureller Gestaltungsraum und Medium globaler Migration und maritimer Handelsströme könnte das Zusammenleben der kulturellen und politischen Loyalitäten neu definieren.
Nachweise
[1] Zur Ideengeschichte von Alexandre Kojève 'L'Empire latin', siehe Otto Kallscheuer (2009). Zur Zukunft des Abendlandes. Essays. Hannover 2009. S. 48 ff.
[2] Dieses Zitat stammt aus einem CfP, der kürzlich auf H-Soz-Kult veröffentlicht wurde: Mediterranean Europe(s): Images and Ideas of Europe from the Mediterranean Shores, 9th Annual Symposium of the Research Network on the History of the Idea of Europe, Istituto Italiano per gli Studi Filosofici – Naples, 4-6 July 2018 (deadline for paper proposals: 27 Dec 2017).
[3] Niccolò Machiavelli, Discorsi sopra la prima deca di Tito Livio [geschrieben 1517 / veröffentlicht 1531], englisch online: http://www.constitution.org/mac/disclivy_.htm, Spinoza, Tractatus Theologico-Politicus [1670], im Projekt Gutenberg: http://www.gutenberg.org/ebooks/989, Antonio Negri, [L'anomalia selvaggia, 1981] Die wilde Anomalie : Baruch Spinozas Entwurf einer freien Gesellschaft, Wagenbach, Berlin 1981.
[4] Bacelona ist nicht nur Ort des jüngsten Unabhängigkeitsbegehrens der Katalanen, sondern auch Sitz des Sekretariats der Mittelmeerunion. Zu den geistigen Anstiftern identitärer Bewegungen siehe Claus Leggewie, Anit-Europäer. Beivik, Dugin, al-Suri & Co. Berlin (edition suhrkamp) 2016.
[5] Gunther Hellmann, Professor für Politikwissenschaft an der Goethe-Universität Frankfurt, ist derzeit Gastwissenschaftler am Käte Hamburger Kolleg in Duisburg, sein Statement ist Teil einer Slide-Show 'The normative power of Europe in view of the refugee challenge' auf der Facebook-Seite des Kollegs.
[6] Unsere Meldung 'Aktuelle Fluchtbewegungen Richtung Europa entwickeln sich zu einer dramatischen Herausforderung für die internationale Gemeinschaft' dokumentierte bereits:
Dirk Messner, Ein Fünf-Punkte-Plan zur Bewältigung der Flüchtlingskrise: es gibt keine kleinen Lösungen für große Probleme, Die aktuelle Kolumne v. 11.9.2015.
In diesem Jahr finden drei Szenario- Workshops statt im Rahmen eines Projekts, welches das Kolleg in Duisburg mit der Friedrich-Ebert-Stiftung (FES) durchführt: Prospective Migration Policy - Scenario Construction on the Relations between Europe and West Africa. Die Ergebnisse sollen noch in diesem Jahr in Brüssel vorgestellt werden.