Globalisierung als humanitäre Herausforderung 3:"Jeder hat das Recht auf eine Staatsangehörigkeit" (Allg. Erklärung der Menschenrechte, Artikel 15)

Staatenlosigkeit entsteht etwa, wenn sich Nationen in kleinere nationale Einheiten aufspalten, wie dies etwa nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion oder der Republik Jugoslawien geschah. Bis heute leben die meisten dokumentierten Staatenlosen in Lettland.
Staatenlosigkeit wird in zwei UN-Konventionen adressiert. Allerdings wurde die zuständige Behörde, das UNHCR lange Zeit für ihre Ineffektivität kritisiert, bevor in den letzten Jahren die Mittel für das zuständige Büro aufgestockt wurden [1]. Seither konnte Staatenlosigkeit durch Interventionen des UNHCR in zahlreichen Fällen verhindert werden, beispielsweise bei den Tamilen nach dem Bürgerkrieg in Sri Lanka, oder den Slowaken nach der Aufspaltung der ehemaligen Tschechoslowakei. Auch die Rohingyas in Myanmar sind intern vertriebene Staatenlose, welchen keine gleichwertigen Staatsbürgerrechte gewährt werden. Das Staatsbürgerrecht von 1982 in Myanmar ist hochgradig diskriminierend, jedoch scheint ein Mangel an Dokumentation und Implementierung das Problem noch zu verschärfen. [2] Die UN gehen davon aus, dass im Jahr 2015 in Myanmar 810.000 Menschen staatenlos waren. Südostasien und Indien haben die Konventionen gegen Staatenlosigkeit bisher nicht unterschrieben. Offensichtlich können gerade die Staaten, in welchen die Problematik der Staatenlosigkeit am dringlichsten ist, die „humanitären“ Vorstellungen der UN-Deklarationen nicht erfüllen.

Einige Situationen sind nicht vorhersehbar und Lösungen können dann nur auf dem Weg oft mühevoller zwischenstaatlicher Verhandlungen erreicht werden. So werden Kinder syrischer Flüchtlinge als staatenlos deklariert, falls der Vater des Kindes nicht dokumentiert werden kann. Dieses Problem scheint für die Geflüchteten noch nicht unmittelbar bedrohlich, solange sie sich in Camps oder Asylzentren aufhalten. Aber nach Ablauf der Aufenthaltsgenehmigung kann sich die Rückkehr für diese Menschen sehr schwierig gestalten, weil sie keine Papiere haben, die eine Staatsangehörigkeit nachweisen. Es gibt aber auch Volksgruppen, die sich selbst als Nationen ohne Staat betrachten. Die Kurden sind dafür ein bekanntes Beispiel und eine Lösung dieses schwierigen Problems ist nicht in Sicht.

In einer Zeit, in der die Nation als Grundeinheit des globalen Regierungssystems zunehmend diskutiert wird, ist die dokumentierte nationale Staatsbürgerschaft wahrscheinlich eine der wertvollsten und für die einzelnen Bürger am meisten geschätzten Zugehörigkeiten überhaupt. Indem nationale Pässe beglaubigen. produzieren sie staatsbürgerliche Identität. Migration wird unser Verständnis für diese Zusammenhänge wohl noch deutlich vertiefen.

Das erinnert stark an die Beweggründe, die das System einst in Gang gesetzt haben. Mitte des 19. Jahrhunderts lösten globalen Migrationsströme und globaler Handel eine Debatte darüber aus, wie die anwachsenden Austauschbeziehungen (von Gütern und Menschen) in geordnete Bahnen gelenkt werden können. Die Zonen, in welchen der freie Markt und liberale Werte regierten, sollten vor fremden und lokalen Mächten geschützt werden, welche angeblich noch zivilisatorischen Aufholbedarf hatten. [3] Die Einführung des Passes als Dokument zum Nachweis individueller Identitäten entstand und wurde gefördert durch das, was wir heute als einen „Club“ von Vorreitern bezeichnen würden (Vereinigte Staaten, Vereinigtes Königreich, Deutschland). Es wurde ein globaler Prozess initiiert, um einzelne Identitäten, vormals von lokalen Gemeinschaften, der Arbeitsumgebung oder religiösen Gremien beglaubigt, effizient nachzuweisen. Seitdem definieren uns die im Pass festgelegten biometrischen Eigenschäften, während die Papiere sich über unsere soziometrischen Besonderheiten ausschweigen.

Der Weg des „Clubs“ brachte andere dazu, sich dem System anzupassen und ein Prozess der Harmonisierung und der gegenseitigen Anerkennung hat über die Jahrzehnte hinweg ein internationales System der Dokumentation individueller Identitäten hervorgebracht, welches heutzutage weltweit auf Flughäfen Anwendung findet; ein System, über welches wir nur nachdenken, wenn es versehentlich einmal ausfällt  [4]. Es wurden einige Initiativen zur Schaffung eines internationalen, ja sogar eines globalen Passes als ein Dokument zur Bekundung einer individuellen globalen Identität ins Leben gerufen. Doch während Globale Staatsbürgerschaft ein Schlagwort und auch ein Schlagwort der aktuellen Debatte über Global Governance ist, bleiben diese Initiativen bislang eher symbolische Kampagnen. [5]

Die Forschung im Bereich der globalen Identitätskonstruktion kann bereichert und geschärft werden, wenn historische Linien ins Bild gesetzt werden. So können konvergierende und divergierende Interessen sichtbar werden, die damals die "Gestalt" von Nationalstaaten erzeugten und gleichzeitig einen Rahmen für Bürgeridentitäten definierten, der, über alle Varianten hinweg, bis heute vorherrscht.

Angenommen, wir leben heute in einer ähnlichen Zeit des Entstehens, indem wir neuen, sich herausbildenden Standards Gestalt geben, wahrscheinlich wieder durch 'Klubs' von Vorreitern- die nicht unbedingt nur aus Staaten bestehen werden, dann  mag es ratsam sein, einen der erhellendsten und weitsichtigsten Beiträge zu dieser Thematik erneut zur Hand zu nehmen. In Hannah Arendts bahnbrechender Analyse über „Die Ursprünge des Totalitarismus“ scheint ein Kapitel über „Die Nation der Minderheiten und das Volk der Staatenlosen“ zunächst nur ein Nebenprodukt ihrer Argumentationskette zu sein. Doch adressiert sie hier nicht die mögliche Forschungsfrage, dass die exkludierende Charakteristik des Westfälischen Nationalstaates dieses Fremde innerhalb und außerhalb zugleich hervorbringt?
Es ist eine schonungslose Lektion der Geschichte, dass sich die nationalen Minderheiten im Europa der 1920er Jahre schließlich nicht in enger Solidarität miteinander befanden, sondern beschlossen, sich der jeweiligen "Mehrheitsnation" am nächsten zu fühlen. Deutsche Minderheiten im Ausland stimmten in einem entscheidenden Moment gegen ihre jüdischen Mitbürger, welche gegen ihre Behandlung im deutschen Reich protestiert hatten. [6] Arendt spricht in diesem Zusammenhang von der "Eroberung des Staates durch die Nation". Schon die Definition von "Staatenlosigkeit" empfindet sie als aufschlussreich. Die "reine" Form der Staatenlosigkeit, welche sich im französischen Begriff "de nationalité indetérminée" ausdrückt, wurde in der Regel problemlos anerkannt. Aber was war mit "Vertriebenen", den "Heimatlosen"? Diese Menschen begannen sich in den neutralen Status der Staatenlosigkeit zu "flüchten", weil sie die Deportation zurück in eine Heimat fürchteten, welche sich in einen Alptraum verwandelt hatte.

Liest man Arendt heute neu, so kann man fragen, ob die heutige Praxis nicht Menschen massenhaft in einen Schwebezustand versetzt, der die Zuschreibung von Staatenlosigkeit zugunsten der Flüchtlingsidentität vermeidet, weil dies zwar wohl öffentliches Unbehagen provoziert, aber dennoch das System der national definierten Identitäten weniger herausfordert.

Literaturnachweise und Notizen

[1] UNHCR startete am 4. November 2014 eine Kampagne zur Beseitigung von Staatenlosigkeit innerhalb der nächsten 10 Jahre. Zur Aufstockung der Ressourcen für das zuständige Büro, siehe UN Dokument 'Update on statelessness'.
Konvention über den Status staatenloser Personen 1954 > English text,
Konvention zur Reduktion von Staatenlosigkeit 1961 > English text.

[2] Nyi Nyi Kyaw, 'Unpacking the Presumed Statelessness of Rohingyas', Journal of Immigrant & Refugee Studies 15 (3), 2017.

[3] Grundlegende Analyse, die sich auch der blinden Flecken jener Studien annimmt, welche sich nur auf transatlantische Migrationsbewegungen konzentriert haben: Adam McKeown, Melancholy Order: Asian Migration and the Globalization of Borders, New York 2011.

[4] 'Major airport delays in Australia and New Zealand as global passport system goes down', The Guardian, 22 May 2017.

[5] (*) Der Weltpass ist ein frei erfundenes Reisedokument, welches von der World Service Authority, einer 1954 von Garry Davis gegründeten non-profit Organisation verkauft wird. Die  'Amherst Declaration on Global Citizenship' der 'The Global Citizens' Initiative (TGCI)  ist das Beispiel einer zivilgesellschaftlichen Initiative. 

[6] Hannah Arendt, Elemente und Ursprünge totalitärer Herrschaft, 1955 (das amerikanische Original erschien 1951) , insbesondere Kapitel II, 9. Arendt bezieht sich auf den 1925 gegründeten (1938 aufgelösten) Europäischen Nationalitätenkongress, eine Nichtregierungsorganisation, welche von Vertretern nationaler Minderheiten gegründet worden war.