"Erfahrung und Engagement" - Christine Unrau hat die Ideenproduktion der Globalisierungskritik untersucht


Die Autorin tritt gleich zu Beginn der verbreiteten Wahrnehmung entgegen, Globalisierungskritiker seien Gegner - oder Leugner - der Globalisierung. Vielmehr handelt es sich um Bewegungen und Akteure, die eine bestimmte (neo-liberal konnotierte) Form der Globalisierung kritisieren und zugleich eine alternative Form der Gestaltung des Globalisierungsprozesses für möglich und geboten halten ("alter-globalization"). Das Phänomen der Globalisierungskritik beschreibt damit selbst ein - längst unübersehbaren  - Pol des Globalisierungsprozesses. 

Unrau interessiert sich unter Bezugnahme auf Isaiah Berlin ("Does political Theory still exist?") für die offene Situation einer Konstellation, in der nach gültigen Handlungsgründen gesucht wird und (noch) offen - oder umstritten - ist, auf welche moralischen Autoritäten man sich bezieht. Die Untersuchung  zielt daher auf eine Reflexion der "impliziten politischen Theorie" des Engagements in der Globalisierungskritik (12*).

Der Durchgang durch das Material, also die Primärquellen, ist in einer solch offenen - zeitgenössischen - Situation eine besondere Herausforderung. Unrau wählt diskursmächtige Publikationen aus den Wissensbereichen

a) Philosophie

  • Ejécito Zapatista de Liberación National (EZLN): verschiedene Erklärungen
  • Michael Hardt, Antonio Negri: Empire, Multitude. War and Democracy in the Age of Empire, Commonwealth

b) Soziologie / Ökonomie

  • Pierre Bourdieu: Contre-feu, Contre-feu2
  • Joseph Stiglitz: Globalization and its Discontents
  • Susan George: Another World is possible if

c) Theologie

  • Leonardo Boff: Ecologia, munidializaçāo, espiritualidade. A emergēncia de un nuovo pardigma
  • Ulrich Duchrow and Franz Joseph Hinkelammert: Leben ist mehr als Kapital, Alternativen zur globalen Diktatur des Eigentums
  • Néstor Miguez, Jörg Rieger, und Jung Mo Sung: Beyond the Spirit of Empire. Theology and Politics in a New Key.


Ihr fällt auf, dass der Begriff der "Erfahrung" hier durchweg prominent figuriert und in vielfältiger Weise ausbuchstabiert wird. Ausgehend von Leidholds Begriff der Erfahrung als "bewusste Partizipation" wählt die Autorin die Erfahrungsdimensionen der rationalen, spirituellen, emotionalen und kreativen Erfahrung und beleuchtet - die Spannung von unmittelbarer vs. tradierter Erfahrung immer im Blick - entsprechend das gesamte Material (a, b, c) in vier Durchgängen.

Unrau, die sich von der "Verdachtshermeneutik" der Diskursanalyse ausdrücklich distanziert, möchte die Aussagen des Materials nicht relativieren sondern kontextualisieren und sie tut dies insbesondere, indem ideengeschichtliche Bezugspunkte ausgemacht werden.   Denn die Artikulation von Erfahrung (Voegelin) ist auf solche Bezugspunkte angewiesen und eine genealogische Perspektive auf die verschiedenen Dimensionen von Erfahrung ist keine lineare Fortschrittsgeschichte, vielmehr werden im je historischen Kontext verschüttete Erfahrungsdimensionen aktualisiert (62) und als Alternativen politisch artikuliert.

Dabei entstehen interessante Verschränkungen. Unrau betrachtet geschichtsphilosophische Positionen der abendländischen Philosophie als immanentisierten Offenbarungsglauben und die Positionen von Hardt/Negri in dieser Tradition. Die auffällige Affinität Negris zu Augustinus erweist sich in beider dezidiert antizyklischem Geschichtsverständnis  (172) und einer nur halb-scherzhaften Annäherung der Rolle des Intellektuellen bei Negri an die der Kirchenväter ("a new partistic", 299).

Mit Erfahrung wird gerne argumentiert, wenn ein dominanter Diskurs als verblendet und damit illusionär entlarvt werden soll. Unrau identifiziert Strategien der Demaskierung als wichtigen Ausdruck der rationalen Erfahrung und nennt als prägnantes Beispiel Joseph Stiglitz' Erlebnis einer "Beleidung der Vernunft" im Hinblick auf den Umgang der Weltbank und des IWF mit bekannten Fakten. Es geht den Globalisierungskritikern um Demaskierung, aber andererseits auch um die Generierung neuen Wissens in veränderten kommunikativen Settings. Elemente der Dezentralisierung und lokalen Autonomie spielen hier eine Rolle und zugleich nicht-hierarchische Aushandlungsstrategien  und Kooperationsformen einschließlich der Organisation von Arbeit (Lazzarato). Der Rückgriff auf die "Gemeinbegriffe" Spinozas und das Gemeinwohl bei Hardt und Negri ("Commonwealth") steht auch für eine post-rationalistische Begründung gemeinsamen Handelns.

Während die rationale Erfahrung Bilder aus dem religiösen Bereich verwendet, um Missstände zu etikettieren (Stiglitz "Glaube" an freie Märkte; Bourdieu's "vulgata économique"; René Girards Konsum als Opferreligion, Boffs "Technomessianismus"), werden Spielarten der Rationalität umgekehrt als einseitig, ergänzungsbedürftig oder fehlgeleitet angesehen ("Wahnsinn der Zwecke", Duchrow; instrumentelle Vernunft als "Satan der Erde", Boff).

Die religiöse Erfahrung scheint als einzige Erfahrungsdimension einen grundlegenden und damit auch ideengeschichtlich nachweisbaren Bezug zur historischen und ökologischen Dimension zu haben.  Das "sentio ergo sum" des Leonardo Boff öffnet mehrere Erfahrungsdimensionen gleichzeitig, es schließt die natürliche Umwelt mit ein, ist auch emotional, insofern Zorn und Mitleid als Teil einer "Spiritualität des Wandels" geschätzt werden (bei Sung wird die ethische Empörung ähnlich als spirituelle Erfahrung qualifiziert), ein Wandel, der dem Offenbarungsgeschehen angenähert wird, denn die geschieht "in der Geschichte". Bei Boff scheint die "Immanentisierung" der religiösen Erfahrung in einem gewissen Sinn vollständig erreicht.

Die emotionale Erfahrung wird als Spielart der rationalen Erfahrung (Nussbaum) aber auch der Sinneswahrnehmung zugeordnet (William James, Damasio). Hier über Leidhold, auf dessen Erfahrungsbegriff sie sich stützt, der die emotionale Erfahrung aber nicht behandelt, hinausgehend, regt Unrau an, über einen dritten Typ von Erfahrungsdimension nachzudenken (neben gegenständlich / ungegenständlich), wo geistige und leibliche Partizipation gleichzeitig vorliegen (209).

Interessant ist, dass die emotionale Befähigung seitens der Autoren sowohl als analytische als auch strategische Möglichkeit in Betracht gezogen wird. Bourdieu's "legitimer Zorn" und Sen's "reasoned scrutiny" stehen für ersteres; "emotionale Intelligenz" (Shaftesbury) für letztere Möglichkeit. Sie spielt übrigens im diplomatischen Diskurs des Auswärtigen Amtes eine genau definierte Rolle (siehe das Grußwort A. Goergen im Jahresbericht des Kollegs 2015). Die  Zapatisten schätzen an Emotionen, dass sie die Identifikationen der Akteure über Gruppengrenzen hinweg erweitern können. Hardt/Negri sprechen von affektiven Netzwerken,  Martha Nussbaum von der notwendigen "Kultivierung der Gefühle", Rorty befürwortet die Entwicklung fördernde "emotionale Narrative".

Vor diesem Hintergrund macht Unrau die interessante Beobachtung, dass Techniken der Distanz bereits in der Renaissance ein Zurückdrängen emotionaler Erfahrungen begleitet haben. Waren es damals die Einführung von Schusswaffen und Hygienemaßnahmen angesichts von  Pestepidemien, so  entwickelt sich mit dem exponentiell anwachsenden Einsatz von Drohnen und verschiedener Virusepidemien eine weitere Distanzerfahrung globalen Zuschnitts. Unrau deutet an, dass ein solches Verlustgeschehen,  an eine mögliche "Wiedergewinnung verlorener Fähigkeiten von Nähe und Nächstenliebe" denken lässt.

Die kreative Erfahrung scheint speziell, insofern alle anderen Erfahrungsdimensionen hier anklingen oder auch integrierbar erscheinen. Die Verfasserin geht nicht soweit, wiewohl die behandelte Reihenfolge der Erfahrungsdimensionen in diese Richtung interpretiert werden mag.

Vertreter der Globalisierungskritik betonen die Bedeutung von kreativen Gruppenprozessen. Bedeutsam hierfür ist die post-individualistische Neuformulierung des Geniebegriffs durch Hardt und Negri, die vom Genius der Multitude sprechen. Es finden sich Vorstellungen von Kooperation, insbesondere im Kontext immaterieller Prozesse (Digitalisierung, Kreativindustrie, Services),  Interaktivität, Immaterialität, Regeneration, die (karnevaleske) Polyphonie der Akteure und Prozesse. Eine post-rationale kreative Erfahrung versteht sich in Nachfolge oder Ergänzung der rationalen Erfahrung auf das Demaskieren und Dekonstruieren (295, Anm. 132). Die Mobilität der Migranten und Marginalisierten macht sie zu habituell Kreativen, wobei vielleicht darauf hinzuweisen ist, dass genau diese Situation in hohem Maße ausbeutbar scheint. Kreativität entsteht auch aus Destruktionen von Souveränität und Status quo, Vorstellungen einer "Schöpfung aus dem Chaos" münden in den Wunsch nach einem Equilibrium, das nie völlige Harmonie wäre, sondern die Spannung aufrecht erhält (Miguez, Rieger, Sung, 314). Gegen die Gestaltbarkeitsskepsis von Poststrukturalismus und Systemtheorie werden Vorstellungen von Wachstum und Erneuerung formuliert, die natürlich-pflanzliche Bilder verwenden (280).

Christine Unraus Monografie leistet einen systematischen Beitrag zur Typologie des Erfahrungsbegriffs in der politischen Theorie und plädiert für eine konzeptionelle Weiterentwicklung der emotionalen Erfahrung im politischen Kontext.  Die eingehende wie umsichtige Quellenanalyse der Verfasserin würdigt die ideengeschichtliche Bedeutung der behandelten Werke und verhält sich zu den Inhalten weder zustimmend noch ablehnend. Mit ungewöhnlichem Geschick gelingt es Christine Unrau, für die Botschaften der behandelten Texte durch Ausbuchstabieren und Kontextualisieren ein Verständnis zu wecken, das jederzeit diskret bleibt und zugleich eine inhaltliche Ernsthaftigkeit belegt, durch die einzig das persönliche Engagement der Verfasserin für ihr Thema aufscheinen mag. Die Quellen aus dem Französischen, Spanischen und Portugiesischen werden in Fußnoten übersetzt, englische in der Regel im Original zitiert. 

* Seitenangaben in Klammern beziehen sich auf das besprochene Werk.

 

Publikation
Christine Unrau, Erfahrung und Engagement. Motive, Formen und Ziele der Globalisierungskritik. Bielefeld: transcript 2018.
 

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