"International Practice Theory": Zweite Auflage signalisiert wachsende Resonanz in einer vielversprechenden "Research Trading Zone""

Die Arbeit erfasst Vielfalt in vielerlei Hinsicht. Das macht bereits das Buchcover deutlich, welches das Piktogramm eines Jongleurs zeigt. Diese geschickte und bewundernswerte Person arrangiert gekonnt und wie es scheint, spielerisch eine Vielzahl von Objekten. Warum sollte man sich nicht auch einen wissenschaftlichen Beitrag performativ vorstellen? "In the metaphorical sense, juggling implies coping with and balancing several activities at the same time, or organising an object in a certain manner ". Die Autoren verweisen mit diesem Bild auf mögliche Forschungsobjekte und Methoden: fachspezifische Instrumente im Werkzeugkasten der Forschenden.
Die Perspektive der Praxistheorie trifft auf ein Desiterat in den Internationalen Beziehungen (IB). Ein besseres Verständnis der 'things and technologies used in producing the international' soll die traditionell erlernten Dichotomien und Differenzierungen ('level of analysis') überwinden. Vertreter der Praxistheorie argumentieren, dass vieles davon eher eine Behinderung, denn eine Hilfe darstellt. Ein genauerer Blick auf situationsbezogene Arrangements scheint besonders in den folgenden IB-Themenbereichen vielversprechend zu sein, welche sich in der IPT-Diskussion als besonders wichtig herausgestellt haben, nämlich in den Bereichen Diplomatie, der Produktion von Unsicherheit, in transnationaler Governance sowie State-Buildung- und intervention. Die Internationale Praxistheorie (IPT) erhebt keinen Anspruch auf Exklusivität oder gar den Status einer "grand theory", vielmehr möchte sie zeigen, "how core phenomena of IR, including power, state behaviour, identity, international organisations, transnational collectives, norms and rules, or war and peace can be studied differently. " (15)
Die Autoren überprüfen und bewerten eine gute Handvoll wichtiger sozialwissenschaftlicher Ansätze hinsichtlich ihrer Anwendbarkeit in den IB. Im Hinblick auf diese Ansätze (die "Software") auf der Angebotsseite und nachfragende Forschende ("Nutzer"), die das anwenden, was im konkreten Fall nützlich ist, wollen Bueger und Gadinger den Begriff der "trading zone" etablieren. Im Angebot sind:
- Bourdieusche Praxeologie
- Foucaults Praxistheorie
- Schatzkis Ontologie der Praxis
- Narrative Ansätze
- Akteur-Netzwerk-Thorie
- Pragmatische Soziologie
(Die Software-Metapher, die nicht von den Autoren stammt, würde natürlich eine Open-Source-Idee implizieren, solange wir die Freiheit der wissenschaftlichen Forschung genießen.)
In der zweiten Auflage haben die Autoren ein ganzes Kapitel, sowie weitere Ansätze (Foucault, Schatzki) hinzugefügt, welche in der ersten Ausgabe noch nicht behandelt wurden. Bueger und Gadinger prioriesieren - unbeschadet persönlicher Präferenzen – keinen dieser Ansätze. Stattdessen hinterfragen sie mögliche Einseitigkeiten. Während Machtstrukturen und-gewohnheiten im Fokus der Bourdeuschen Praxeologie stehen, tendiert ihre Anwendung zur Überbetonung scheinbar fixer Unterschiede und Stabilitäten. Konzepte von Luc Boltanski und weiteren, die sich auf das Ephemere, auf Situationen, Krisenmomente und deren Veränderungspotenzial fokussieren, verlieren unter Umständen tieferliegende Strukturen, welche außerhalb des betrachteten Zeitrahmens entstanden sind, aus dem Blick und befassen sich mit Macht (die Bequemlichkeit, nichts zu verändern) auf allzu naive Weise.
Die IPT kann als ein Bereicherungsprogramm für die IB-Forschung angesehen werden, die Perspektiven ermöglicht, die in der Anthropologie und der ethnographischen Forschung durchaus bekannt sind. Sie bringt eine Strategie- und Experimentierfreudigkeit in die IB-Forschung ein, welche die Idee eines flexibleren Umgangs mit den sich ständig verändernden Praxisfeldern der internationalen politischen Arena in sich trägt. Der Beitrag zur Kooperationsforschung scheint dabei offensichtlich. Da in der Regel eine Vielzahl gesellschaftlicher Akteure sowie gesellschaftliche und organisatorische Ebenen involviert sind, muss das Objekiv der Betrachterin flexible sein: Forscher müssen ZOOMEN können.
Zur Normativität: Die Autoren betonen die Bedeutung der Selbstreflexivität von Forscherinnen und Forschern und schlagen eine Forschungsethik vor, welche einem prozessualen Verständnis, praktischem Wissen, Kollektivität, Materialität, Vielfalt, Performativität und Empirie verpflichtet ist. Sie empfehlen offene Augen: im Hinblick auf den Inhalt der eigenen Toolbox und die zu untersuchenden Objekte. Normen und Regeln, so argumentieren sie angelehnt an Wittgenstein und Heidegger, "have to be understood in use" (111). Sie werden "exhibited" und nicht einfach "followed" (Joseph Rouse), unterschiedliche normative Ziele werden in Praktiken von Kritik und Rechtfertigung sichtbar "through the mobilisation of different orders of worth in disputes "(114, Luc Boltanski). Die Akteur-Netzwerk-Theorie ist ein weiterer Ansatz, der eine andere Perspektive auf Normativität ermöglicht, die durch jeweils spezifische Konstellationen erzeugt wird.
Eine große Stärke dieser Veröffentlichung liegt im Einbezug aktueller Literatur, nicht nur in der umfangreichen Bibliographie, sondern vor allem auch im Argumentationsgang nahezu aller Kapitel.
Zahlreiche Fellows des Käte Hamburger Kollegs für globale Kooperationsforschung sind an der IPT-Entwicklung beteiligt und finden in diesem Band Platz. Ohne Garantie auf Vollständigkeit sind dies: mit recht frühen Beiträgen zur Entwicklung von IPT, Wanda Vrasti und Morgan Brigg; mit einflussreichen Beiträgen seit vielen Jahren, Dvora Yanow; und mit neueren Publikationen, Felix Bethke, Susanne Buckley-Zistel, Alejandro Esguerra, Mneesha Gellman, Gunther Hellmann, Jonathan Joseph und Kai Koddenbrock.
Es scheint ganz so, als sei diese Veröffentlichung ein Muss für alle speziell an der Internationalen Praxistheorie aber auch an innovativen Ansätzen in den Internationalen Beziehungen im Besonderen interessierten Forschenden und Studierenden. Der Band leistet auch eine umfassende Einführung in die Herausforderung der Feldforschung für Forschende, welche mit den konzeptionellen und methodologischen Herausforderungen des Zugangs zu spezifischen Praktiken in politischen Organisationen und Gruppen, bei Experten und Prominenten etc. konfrontiert sind.
In einem Satz: Die zweite Auflage dieses Augenöffners kommt genau im richtigen Moment.