Mehrebenen-Diplomatie in einer polyzentrischen Konstellation

In der Governance internationaler Beziehungen spielen regionale Konflikte eine besondere Rolle. Hier bündeln sich Kräfteverhältnisse, die über die jeweilige Region weit hinausgehen können und die Gefahr von Stellvertreter-Konflikten ist oft groß. Ein Element globaler Verantwortung ist die Eingrenzung solcher Konflikte durch internationale Vereinbarungen und deren Monitoring durch die Internationale Gemeinschaft.
Ein typische Konstellation umfasst neben den direkt am Konflikt beteiligten regionalen Mächten bzw. Akteuren einflussreiche Staaten, die, oft in ihrer Rolle als Mitglieder des UN-Sicherheitsrats, als Schutz- und Garantiemächte solcher Vereinbarungen fungieren sollen. Und doch wird man Neutralität von diesen letztgenannten in der Regel nicht erwarten können. Der Ausgleich solcher Machtinteressen ist seit jeher die noble Aufgabe der Diplomatie.
Sie muss eine Vorteilssituation für alle Beteiligten darstellen und betätigt sich als notwendiger Geschichtenerzähler im Dienste solcher Narrative.
Die südkoreanische Diplomatie seit 2017 bietet ein aktuelles Beispiel dafür, wie eine solche - gewissermaßen polyzentrische - Promotion der eigenen Interessen, hier mit dem Ziel der Lösung eines jahrzehntelangen Konflikts strategisch gerahmt und praktisch kommuniziert und umgesetzt wird.
Der Konflikt eines geteilten Landes stellt den Spezialfall eines regionalen Konflikts dar. Eine Quelle der Komplexität des Koreakonflikts kann man jedoch darin erkennen, dass er die Spannungen im Verhältnis von vier historischen und aktuellen Großmächten bündelt, der VR China, Russlands, Japans und der USA. Eine weitere Besonderheit der aktuellen Situation lässt sich historisch begründen. Das Land hat ein paar Jahrhunderte Erfahrung im Umgang mit Großmächten und die Schmach der japanischen Besatzung von 1905 bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs resultiert auch aus der Tatsache, dass diese Besetzung des gesamten Landes historisch die große Ausnahme darstellt. Korea konnte sich durch kluges Aushandeln von Tributen immer wieder gegenüber weit mächtigeren Nachbarn schadlos halten.
Der koreanische Konfuzianismus bildet daher nicht nur eine Grundlage für die Staatsführung nach innen. Er ist Grundlage und bewährtes Instrument der koreanischen Diplomatie bereits am Hof von König Sejong, dem Erfinder der koreanischen Schrift im frühen 15. Jahrhundert.
Die koreanische Teilung hat, wie übrigens für lange Zeit die deutsche, eine Mehrebenen-Diplomatie notwendig gemacht, die eine Herausforderung besonderer Art darstellt und doch den regionalen Akteuren in dieser besonderen Konstellation eine Fülle strategischer Vorteile verschaffen kann.
Der innerkoreanische Gipfel des 27. April wurde im unmittelbaren Vorfeld durch intensivste Reise- und Besucherdiplomatie flankiert. So waren Sicherheitsexperten mit Kabinettsrang aus Peking, Moskau und Tokyo wenige Tage zuvor in Seoul empfangen worden. Beide Seiten haben ihren jeweiligen Schutzmächten vor dem Treffen die notwendige Referenz erwiesen: Kim Jeong-un traf bei dieser Gelegenheit überhaupt zum ersten Mal auf den chinesischen Staatspräsidenten, was allein schon die Dringlichkeit dieser Rückversicherung (für beide Seiten) unterstreicht. Südkoreas Staatspräsident Moon Jae-in, den der langjährige ARD-Korrespondent Klaus Scherer deshalb auch einen "klugen Mann" genannt hat, bringt das Kunststück fertig, für den amtierenden US-Präsidenten und den nordkoreanischen Amtskollegen zugleich ansprechbar zu sein. Im Gegensatz zu beiden hat er seine Positionen und Formulierungen in den vergangenen Wochen keineswegs ändern müssen.
Moon's duale Formel, mit der er die Androhung und Aufrechterhaltung von Sanktionen mit dem parallel aufrechterhaltenen Gesprächsbemühen verband, hat auf der einen Seite den Hardlinern auf allen Seiten befriedet und zugleich die Blockade des angestoßenen Wandlungsprozesses verhindert. Es ist ihm auf diese Weise gelungen, auch international die eigene Glaubwürdigkeit zu unterstreichen.
Skeptiker haben im Hinblick auf Panmunjeom von "kleinen Schritten" und "großen Gesten" gesprochen. Im Hinblick auf einen Konflikt, der seit nunmehr über sechs Jahrzehnten dadurch in Schach gehalten wird, dass man ihn eingefroren hat, ist diese Verschiebung der Perspektive auf die Gegenseite ein möglicherweise entscheidendes Initial. Denn es eint die regionalen und weiteren Beteiligten die Erkenntnis, dass die zum Stillstand gekommene politische Konstellation in Nordostasien niemandem mehr nützt. Der Weg aus dieser festgefahrenen Situation wird seit langem gesucht. In Deutschland war die Anerkennung der Koexistenz zweier deutscher Staaten, so wissen wir mittlerweile, der Anfang einer Entwicklung, die in deren Wiedervereinigung führte. Aber Geschichte wiederholt sich nicht (wörtlich).
Lyle Goldstein hat für die koreanische Halbinsel ein Konzept entwickelt, das er Kooperationsspirale nennt. Darin schlägt er zweimal fünf wechselseitige Maßnahmen vor, wie die USA und die VR China eine kernwaffenfreie koreanische Halbinsel realisieren können. Die Studie, 2015 erschienen, nimmt China als Schutzmacht Nordkoreas in die Pflicht und schlägt vor, dass sowohl das Einfrieren der nordkoreanischen Kernwaffenproduktion als auch deren Abrüstung (Verschrottung) durch die VR kontrolliert wird. Die USA anerkennen im Gegenzug die staatliche Souveränität Nordkoreas unter der Bedingung, dass diese Abrüstungsschritte tatsächlich erfolgt sind und ziehen reziprok eigenes Arsenal ab. Der auf symmetrische Schritte orientierte Ansatz Goldsteins sieht auch die Stationierung chinesischer Truppen in Nordkorea vor und verweist darauf, dass China bereits 1958 seine Truppen einseitig zurückgezogen habe (eine Lücke, die die Sowjetunion ab 1960 zunächst geschlossen hat). Goldsteins Kooperationsspirale ist noch kein Weißbuch für die Lösung der Dilemmas. Sie öffnet aber eine auf Reziprozität aufgebaute Option für die Gestaltung eines sicherheitspolitischen Prozesses, der zu mehr Berechenbarkeit gerade zwischen den militärischen Akteuren in der Region führen kann. Chinas neuerlich bekräftiger Vorschlag ('freeze-to-freeze') weist in eine ähnliche Richtung.
Denn die strategischen Gefahren und Geltungsansprüche der Region sind auf dichtem Raum jederzeit präsent. Am Tag nach dem Gipfel, am 28. April, hielt sich ein chinesisches Aufklärungsflugzeug unangekündigt über vier Stunden in der südkoreanischen Luftverteidigungszone auf.
Quellen
Klaus Scherer (NDR), 'Was für eine Wende!', Kommentar zum Koreagipfel, Tagesthemen, 27.4.2018
Christoph Neidhardt, 'Kleine Schritte, große Gesten', Sueddeutsche, 27.4.2018
Lyle J. Goldstein (2015). Meeting China Halfway. How to Diffuse the Emerging US-China Rivalry. Washington D.C.: Georgetown University Press
'Chinese military plane enters S. Korea's air defense zone'. Yonhapnews, 28.4.2018
'China espouses peace regime on Korean Peninsula, vows to play role', Yonhapnews, 2.5.2018