Digitalisierung als Herausforderung für Global Governance und Zusammenarbeit

In einer Zeit zunehmender Spannungen zwischen dem Bewusstsein für die Dringlichkeit eines konzertierten Handelns in gesellschaftspolitischen Fragen auf der einen Seite und Renationalisierungsaffekten auf der anderen Seite möchten wir einen frischen Blick auf eine Entwicklung werfen, die jenseits dieser Debatten fast unbemerkt voranschreitet: die nahtlose Digitalisierung von immer mehr Aspekten des Lebens im Anthropozän.

Die Digitalisierung der sozialen und wirtschaftlichen Interaktion löst einen schnellen Wandel in der Art und Weise aus, wie das Leben auf der Erde organisiert, erlebt, gepflegt und zwischen den Generationen übertragen wird. Digitalisierung ist dabei, die Organisation von Arbeit, Gesundheit und Produktion von Gütern grundlegend neu zu formen. Damit wird sich auch die Art und Weise verändern, wie wir die menschliche Umwelt lokal und global, an Land, in den Ozeanen, in ländlichen und städtischen Gebieten organisieren. Es wird auch unsere Kommunikationsfähigkeit verändern, etwa wenn wir in unseren körperlichen Fähigkeiten eingeschränkt sind, zum Beispiel aufgrund unseres Alters oder anderer Einschränkungen. Die Digitalisierung hat und wird, wie alle technischen Innovationen, unsere Strategien und Möglichkeiten verändern, wie wir den Herausforderungen für den (trans-)humanen Körper, für Gesellschaften und Umweltsysteme begegnen.

Die Auswirkungen der Digitalisierung werden nun in "Towards our Common Digital Future", einer Leitpublikation des Wissenschaftlichen Beirats der Bundesregierung Globale Umweltveränderungen unter dem gemeinsamen Vorsitz von Dirk Messner, untersucht und prognostiziert. Das Gutachten sieht einen "großen Wandel" hin zu einer nachhaltigen Gesellschaft vor und zielt auf die Operationalisierung der Digitalisierung ab, die diesen Wandel durch einen breiten und weitreichenden Ansatz unterstützen soll. Die Auswirkungen von Innovation und Rationalisierung sind willkommen, aber die Publikation projiziert, dass die sozial gerechte Verteilung der Gewinne eine Herausforderung sein wird. Effizienzsteigerungen werden fast überall möglich sein, von der Logistik bis zur nachhaltigen Nahrungsmittelproduktion und -konsum, von der Entwicklungszusammenarbeit bis zur Verteilung der Gesundheitskapazitäten. Die digitale Kompetenz und der gleichberechtigte Zugang zu Daten werden eine Herausforderung in Bildung und Forschung sein. Eine Datensteuer wird ebenfalls im Bericht diskutiert, aber nicht empfohlen.

In ähnlicher Weise verbindet die Initiative World in 2050 die "Digitale Revolution und nachhaltige Entwicklung" und fordert die Annahme eines komplexen Ansatzes für adaptive Systeme. Diese Studie, die kürzlich am UN-Hauptsitz in New York vorgestellt und von Nebojsa Nakicenovic, Dirk Messner, Julia Leininger, Johan Rockström und anderen verfasst wurde, bewertet die "disruptive Revolution hin zu einem nachhaltigen Anthropozän", die durch Digitalisierung möglich ist, sieht dies aber auch als Herausforderung für die "Absorptionsfähigkeit unserer Gesellschaften, die möglicherweise die bereits alarmierenden Trends der Erosion des sozialen Zusammenhalts vervielfachen wird". Dennoch öffnet die "Digitale Revolution neue Türen für einen Quantensprung der menschlichen Zivilisation". Wissenschaftliche Szenarienbildung steht im Mittelpunkt dieser Übung und war auch Thema der Meisterklasse des Zentrums mit Nebojsa Nakicenovic im Jahr 2017.

Die Forschung des Zentrums interessiert sich für die Wege und Mechanismen dieser Entwicklung und auch für die polyzentrischen Arrangements, die sich aus neuen Möglichkeiten des Technologiemanagements ergeben. Nicht zuletzt stehen Legitimationsfragen im Hinblick auf die zunehmende Forderung nach einer Regulierung digitaler Plattformen und technologischer Möglichkeiten durch Behörden in verschiedenen politischen Systemen im Mittelpunkt dieses Forschungsschwerpunktes. Bei einem Workshop zum Thema "Contested Power and Authority in Internet Governance: Return of the State?' wurden viele dieser Fragen von Experten für Internet Governance untersucht, darunter viele Teilnehmer des Internet Governance Forums (an sich ein Thema, das für die Polyzentralitätsforschung von Interesse ist, siehe Jan Aart Scholte für eine Bewertung des IANA-Übergangs und anderer Entwicklungen; Referenzen unten).

Die diesbezügliche Regulierung wird als sehr spät einsetzend wahrgenommen. In Europa waren es vor allem die EU-Institutionen, die die Regulierung von Internet und gefälschten Nachrichten in den Vordergrund gestellt haben. Es ist auch die EU, die mehr als jede andere regionale oder nationale gesetzgebende Institution damit begonnen hat, die digitalen Schwergewichte der USA in Europa zu regulieren. Sogar einige Faktenprüfer wurden von der EU finanziert (Rone). Ist Internetregulierung Social Engineering (Stender)? Workshop-Organisatorin Blyane Haggart (zusammen mit Natasha Tusikov) erinnerte daran, dass viele Nicht-EU-Länder darüber diskutieren, ob eine Regulierung überhaupt stattfinden sollte. Auch kulturelle Aspekte kommen in solchen Situationen in die Diskussion. Lianrui Jia betonte, dass in China die Technologie ein bedeutender Faktor für "Macht" sei. Aber ist das anders als anderswo? Russland hat Regulierungbemühungen bisher auf die Inhalte konzentriert, könnte aber letztendlich dazu übergehen, die Infrastruktur regulieren (Stadnik). Was in China als 'Cybersicherheit' bezeichnet wird, läuft in Russland unter dem Begriff der 'Informationssicherheit'. Ist Plattform Governance auch Internet Governance oder ist es etwas anderes? Das Internet Governance Forum ist eine Multi-Stakeholder-Plattform, wobei das diesjährige Jahrestreffen Ende November in Berlin stattfinden wird. Der französische Präsident Emmanuel Macron hatte lediglich Plattformen im Sinn, als er einen dritten Weg für Europa jenseits der vorherrschenden Internetmodelle aus "Kalifornien" und "Peking" forderte. Der Begriff der französischen Datenbesteuerung 'Gafa' ist da einigermaßen explizit: eine Abkürzung für 'Google', 'Apple', 'Facebook' und 'Amazon'.

Die Auswirkungen der Digitalisierung auf die internationale (Nicht-)Zusammenarbeit sind auch in den neuen Kommunikationswegen mit systemischen Auswirkungen auf die Gesellschaft zuspüren. Twitter-Inhalte des amtierenden US-Präsidenten können mit zunehmender Gewalt auf den Straßen von Los Angeles und anderen Orten in den USA korreliert werden. Eine ähnliche Korrelation wurde zwischen populistischen Aktionien und deutschen AfD-Tweets gefunden (Müller/Schwarz; Briefing 'Online Defamation'). Die Übernahme der Rolle eines Influencers ist auch Teil eines Verhandlungsansatzes von Akteuren im internationalen Umfeld, einer trendigen Strategie, die die Androhung von wirtschaftlichem Druck und anderen Nebelkerzen verbreitet. Dieser Aspekt wurde bereits von einem internationalen akademischen Gremium untersucht (Larry Crump, ein Alumni-Stipendiat des Zentrums, trug Trump on Trade" bei).

Schließlich ist anzumerken, dass sich die digitale Diplomatie zu einer neuen Art der politischen Kommunikation entwickelt hat. Die Digitalisierung sorgt für eine nebulöse Authentizität, die nicht zuletzt die Grenze zwischen Tatsache, Meinung und gefälschten Nachrichten oder Fehlinformationen verwischt. So ändert Twitter beispielsweise die Haftung der "offiziellen" Kommunikation und bietet den Amtsträgern einen rechtlich unverbindlichen, aber offensichtlich nicht wirkungslosen Verbreitungsweg. Einige chinesische Diplomaten haben begonnen, das nützlich zu finden (Cappelletti).

Die Transformation der heutigen Gesellschaften in eine nachhaltig organisierte Umwelt durch die Anwendung digitaler Optionen, die durch transparente Leitplanken der Global Governance legitimiert und kontrolliert werden: Das ist die Aufgabe, und sie ist schwierig, darin sind sich fast alle Experten einig. Aber im Lichte von KI-Systemen, die die Zusammenarbeit zwischen Mensch und Maschine organisieren, "basierend auf großen Datenmengen, die in komplexe Routinen der algorithmischen Entscheidungsfindung eingebettet sind", steht eine neue Datenethik noch aus (Bieber).

 

Referenzen

WBGU – German Advisory Council on Global Change (2019): Towards our Common Digital Future. Summary and Recommendations. Berlin: WBGU. https://www.wbgu.de/en/publications/publication/towards-our-common-digital-future.

TWI2050 - The World in 2050 (2019). The Digital Revolution and Sustainable Development: Opportunities and Challenges. Report prepared by The World in 2050 initiative. International Institute for Applied Systems Analysis (IIASA), Laxenburg, Austria. www.twi2050.org.

'... it is not created by any specific actor', Interview with Jan Aart Scholte about Internet Governance, Democratic Participation and the Language of the Game,  GCR21 Newsletter 3/2018: 6f.

All Things Internet, and the Internet of Things, Interview with Blayne Haggart and Natasha Tusikov, GCR21 Quarterly Magazine (2) 2019, 4–5.

Christoph Bieber, Humans and Machines: Cooperation in Digitization Research, GCR21 Quarterly Magazine (2) 2019, 6–7.

Governance of Climate Change: Centre's Unique Research Position, interview with Dirk Messner, GCR21 Quarterly Magazine (2) 2019, 8–9.

Larry Crump (2019). 'Trump on Trade', Negotiation Journal, Vol. 35 (1), January, 141-145.  Online available here: https://doi.org/10.1111/nejo.12250.

Alessandra Cappelletti (2019). ‘Between Centrality and Re‑scaled Identity: A New Role for the Chinese State in Shaping China’s Image Abroad. The Case of the Twitter Account of a Chinese Diplomat in Pakistan’, Chinese Political Science Review: 1–26.

Eine Monographie von Blayne Haggart und Natasha Tusikov über "Knowledge Governance" ist in Vorbereitung.

Teilnehmer des Workshops zum Thema "Contested Power and Authority in Internet Governance": Rückkehr des Staates?" im Text erwähnt: Julia Rone, Mathana Stender, Lianrui Jia und Ilona Stadnik.

Die vierzehnte Jahrestagung des Internet Governance Forum (IGF) wird vom 25. bis 29. November 2019 auf Einladung der Bundesregierung in Berlin unter dem übergreifenden Thema ausgerichtet: Eins. Welt. Ein Netz. One Vision.https://www.intgovforum.org/multilingual/content/igf-2019.

Das Briefing des Zentrums: Online Defamation" bezog sich auf zwei Studien über die Auswirkungen der Social Media Kommunikation auf die realen Ebenen von aggressivem Verhalten oder Gewalt:

Karsten Müller and Carlo Schwarz (2018a). 'Making America Hate Again? Twitter and Hate Crime under Trump', SSRN Electronic Journal, http://dx.doi.org/10.2139/ssrn.3149103.

Karsten Müller and Carlo Schwarz (2018b). 'Fanning the Flames of Hate: Social Media and Hate Crime', SSRN Electronic Journal, http://dx.doi.org/10.2139/ssrn.3082972.