Architekturen in Bewegung: Maria Koinova über die polyzentrische Governance der Transitmigration

Wissenschaftliche Arbeiten zur polyzentrischen Steuerung konzentrieren sich bislang kaum auf die Migrationspolitik an sich, so Maria Koinova, Associate Fellow des Kollegs, die in einem neuen Artikel den möglichen Wert dieser Perspektive auf die Migration untersucht. Sie befasst sich mit den jüngsten Entwicklungen auf dem Balkan und in der MENA-Region und stellt einen relationalen Ansatz zur polyzentrischen Steuerung der Transitmigration vor, der einen Einblick in die polyzentrischen sozialen Beziehungen zwischen verschiedenen Akteuren ermöglicht.

Open Source SymbolKoinova, Maria (2022). Polycentric governance of transit migration: A relational perspective from the Balkans and the Middle East, Review of International Studies X: 1–23. doi.org/10.1017/S0260210521000693

Koinovas Artikel, der kürzlich im Review of International Studies veröffentlicht wurde, trägt in mehr als einer Hinsicht zur Forschung des Kollegs bei. Er erweitert nicht nur das Themenspektrum der Polyzentralitätsforschung, sondern belebt zusätzlich den produktiven Pfad der Migrationsforschung am Kolleg im Rahmen des Politikfeldes "Global Governance of Migration". Migration zu verstehen und überzeugende Modelle für diese komplexen Zusammenhänge zu finden, ist eine ständige Herausforderung für die einschlägige Forschung. Koinova möchte die polyzentrische Sicht nutzen, um entscheidende Aspekte sichtbarer zu machen: soziale Beziehungen zwischen Akteur*innen, Beziehungen zwischen formellen und informellen Sektoren und auch die "Kluft zwischen den Absichten für multilaterale Governance und der Umsetzungspraxis [ ... ], die besonders im Bereich der Transitmigration sichtbar wird" (1). Eine polyzentrische Perspektive "verlagert den Schwerpunkt weg von rechtlichen und politischen Rahmenbedingungen hin zu Interaktionen" (4). Diese Konzentration auf relationale Aktivitäten ("Interaktion") ist auch hilfreich, wenn wir die Rolle der räumlichen Nähe zwischen Ländern (Entsende- und Aufnahmeländern) und regionalen Konfigurationen verstehen wollen. Eine Konfiguration, so scheint Koinova zu sagen, ist immer mehr als ein Satz von Regeln. Es geht um "ein spezifisches Beziehungsgeflecht zwischen politischen und sozialen Akteur*innen, die an der Steuerung der Migration beteiligt sind" (5). Die Vorstellung, dass gemeinsame Regeln den Zusammenhalt einer polyzentrischen Konfiguration sichern, impliziert, dass diese Regeln auf Machtbeziehungen beruhen und im Laufe der Zeit durch informelle deliberative Aktionen ergänzt werden. Koinova baut auf dem Ansatz von Jan Aart Scholte zur polyzentrischen Governance[1]  und den relationalen Theorien des IR auf (6). Die Steuerung der Transitmigration ist durch Machtstrukturen gekennzeichnet, die sowohl formelle als auch informelle Regeln beinhalten. Dies "führt nicht notwendigerweise zu regelbasierten Institutionen oder Initiativen, wie in der Governance-Forschung oft angenommen wird" (7). In einer sozialwissenschaftlichen, fast "situationistischen" Art und Weise möchte die Autorin fixe Systeme oder kausale Erklärungen vermeiden:
 

In diesem Artikel, der Muster dauerhaft etablierter sozialer Beziehungen erfasst, anstatt Kausalität nachzuvollziehen, behandle ich Mechanismen wie Kooperation, Zwang, Konditionalität, Eindämmung oder Anfechtung nicht in kausaler Weise, sondern als Regelmäßigkeiten, die unter bestimmten Umständen auftreten. (7)

Koinova ordnet diese vier Mechanismen und Bausteine einer relationalen Architektur - Kooperation, Konditionalität, Eindämmung und Kooptation - in ein heuristisches Modell ein (Abbildung 1, S. 9), in dessen Mittelpunkt der Transitstaat steht, umgeben von internationalen Organisationen, NGOs und anderen privaten und nichtstaatlichen Akteuren, Zielstaaten und Entsendestaaten.

Der Artikel liefert eine dichte und detaillierte Darstellung der Transitmigration auf dem Balkan - eine Auswahl, die Ungarn wohl oder übel umgeht - und in der MENA-Region, wobei der Schwerpunkt der Betrachtung auf den auf den Transitstaaten Türkei, Libanon und Jordanien liegt. Koinova macht interessante Beobachtungen. Eine davon ist die unterschiedliche Wirkung der EU-Politik auf diese Regionen. Die EU-Konditionalität spielte bei der Umsetzung der Migrationssteuerung in den westlichen Balkanstaaten eine verbindende Rolle. Stabilisierungs- und Assoziierungsabkommen wurden durchweg unterzeichnet. In der MENA-Region hingegen sind die Zielstaaten nicht nur europäisch. Die geografisch relativ weit entfernten europäischen Zielstaaten spielen in dieser regionalen Architektur eine weniger ausgeprägte Rolle als die (oftmals benachbarten) Entsendestaaten.

Was die Dinge vor Ort jedoch zum Laufen brachte, war das Engagement und die geschäftliche Motivation privater Akteure. NGOs leisteten entlang der Balkanroute humanitäre Hilfe:
 

Es herrschte Einigkeit darüber, dass Flüchtlinge und andere Transitmigrant*innen zwar nicht dauerhaft auf dem Balkan bleiben dürfen, ihre Menschenrechte aber geachtet werden sollten, solange sie sich dort aufhalten. In Nordmazedonien waren muslimische und internationale NGOs die ersten, die sich engagierten und Hunderte von Freiwilligen anzogen, von denen viele die gewaltsame Behandlung von Flüchtlingen durch den Staat angefochten haben. (13)

Es gibt auch Untersuchungen über Schleusernetzwerke (die bereits vor 2014-16 bestanden), die stillschweigend geduldet wurden und ein Wechselspiel zwischen formellen und informellen Interaktionen in einer so genannten "Ko-Beziehung" schufen. [2]

Da es in der MENA-Region keinen Rechtsstatus für Migrant*innen und Flüchtlinge gibt, hat sich die "Transitmigration" dort als rechtliche Behandlung der irregulären Migration augebildet. Der Gesamtrahmen ist also von vornherein ein anderer. Die geografische Situation unterscheidet sich, wie bereits erwähnt, ebenfalls deutlich. Rahmenbedingungen wie fragile Staatlichkeit schufen die Voraussetzungen für das Gedeihen der Informalität, führten aber auch zu stärker "bilateralisierten" Vereinbarungen zur Steuerung der Transitmigration mit der EU ("Libanon Compact"; "Jordan Compact").  Der Spielraum für internationale Organisationen - insbesondere das UNHCR - und nichtstaatliche Akteure ist daher unterschiedlich. Im Hinblick auf letztere gilt dies für die humanitäre Hilfe, aber auch für Schleusernetze, die "informell geduldet" werden. 
 

Wie auf dem Balkan ist es kontraintuitiv und auch institutionell illegal, Schmuggler in die Architektur der Steuerung der Transitmigration einzubeziehen. Dennoch existiert sie informell auch in der MENA-Region, nicht zuletzt, weil sie die politische Ordnung der Transitstaaten nicht bedroht und ihnen informell Vorteile bringt. (21)

Die wohl komplexeste, herausforderndste und multiethnischste Situation hat sich in der Türkei entwickelt, einem Land, das im Zuge der Umstellung auf ein autokratischeres Regierungsmodell zumindest seit 2016 auch einige Verfahren zur Regulierung der Transitmigration geändert hat. Aus Sicht von Koinovas Artikel nimmt die Türkei eine Zwischenposition ein. Das Land liegt in der Nähe der MENA-Region, wenn nicht sogar dieser zugerechnet, und es ist - immer wieder - ein EU-Kandidatenland. Es überrascht nicht, dass Koinova hier auf die ausführliche Arbeit ihrer Associate Fellow-"Kollegin" Zeynep Sahin Mencutek zum Thema Migration und Flüchtlingssteuerung verweist.

Koinovas neue Veröffentlichung eröffnet eine Perspektive für ein besseres Verständnis des Beitrags von Informalität und polyzentrischen sozialen Beziehungen zwischen verschiedenen Akteuren beim Aufbau und der Aufrechterhaltung regionaler Governance-Architekturen. Institutionelles Regieren wird ihrer Meinung nach durch informelle Verfahren ergänzt und weniger in Frage gestellt. Die Fähigkeit dieser Akteure, sich auf besondere Weise anzupassen, scheint entscheidend zu sein:
 

Abgesehen von Regierungen und internationalen Organisationen passen sich die relevanten Akteure an die Mischung aus formellen und informellen Beziehungen in einer Region an, die von den politischen Regimen und Kapazitäten der Staaten, in die sie eingebettet sind, geprägt sind.  (22)

Ein weiterer Vorteil mag hinzukommen, der in polyzentrischen Konstellationen eine Rolle spielt: die Fähigkeit, flexibel und kreativ auf Veränderungen im Laufe der Zeit zu reagieren: "Migration Governance"-Architekturen in Bewegung.

 

Martin Wolf

[Die deutsche Übersetzung der Zitate in dieser Besprechung dient dem besseren Verständnis. Wissenschaftliche Bezugnahmen sollten auf das englische Original erfolgen.]


[1] Frank Gadinger and Jan Aart Scholte, Polycentrism: How Governing Works Today (Oxford, UK: Oxford University Press, forthcoming).

[2] Koinova refers to: Nina Perkowski and Vicki Squire, ‘The anti-policy of European antismuggling as a site of contestation in the Mediterranean migration “crisis”’, Journal of Ethnic and Migration Studies, 45:12 (2019), pp. 2167–84.