Was passiert mit Fähigkeiten und Fachwissen, wenn sich Menschen in einer neuen Umgebung niederlassen? Wenn Gesellschaften, Unternehmen oder Verwaltungen diese Fähigkeiten anders bewerten? Wenn sich auf der anderen Seite Möglichkeiten ergeben, neue, andere Fähigkeiten zu erwerben, die für eine unvorhergesehene Karriere qualifizieren? In der 6. Global Migration Lecture stellte Heba Gowayed, Moorman-Simon Assistant Professor of Sociology an der Boston University, Ergebnisse einer vergleichenden Ethnographie in den USA, Kanada und Deutschland vor.
Sie interessierte sich für Migrantenfamilien aus Syrien und traf auf Menschen, die "qualifiziert oder angelernt, aber nicht hochqualifiziert" waren. Die Wahrnehmungen von Geschlecht, Rasse und sozialem Wert in den Aufnahmeländern tragen oft zu einem schwierigen Kontext bei. Die Herausforderungen und Möglichkeiten variieren sowohl innerhalb eines Landes als auch von Land zu Land. Sie sieht die Migration als einen Prozess, der das Humankapital beeinträchtigt, und ihr vergleichender Ansatz hebt die besondere Rolle der nationalen Governance-Verfahren bei der Neugestaltung dieses - oder welches - Humankapitals hervor. Gowayed entwickelte eine solide Methodologie, die vergleichende Ethnologie mit einer transnationalen, von der Wirtschaftssoziologie geprägten Perspektive verbindet, um selektive Prozesse in spezifischen sozialen Konfigurationen zu untersuchen. Darüber hinaus hat sie drei Jahre lang mehr als 50 syrische Migrantenfamilien in verschiedenen Ländern teilnehmend beobachtet. In 'Refuge. How the State Shapes Human Potential', einer Monografie, die kürzlich bei Princeton University Press erschienen ist, verbindet Gowayed diese fesselnden Geschichten (und Bilder) über das Leben syrischer Migrantenfamilien auf der Suche nach einem neuen Leben mit eingehenden methodologischen Überlegungen darüber, was mit dem Humankapital, mit Fähigkeiten, Fertigkeiten und Erfahrungen in einem anderen Kontext geschieht. Anja Weiss, Professorin für Soziologie mit Schwerpunkt Makrosoziologie und transnationale Prozesse an der Universität Duisburg-Essen, die das Buch "atemlos wie einen Roman" gelesen hat, würdigte in ihrem Kommentar vor allem diese Verbindung zwischen einer menschenzentrierten und einer strukturellen Perspektive.
Wenn der Vortrag und das Buch ein Aufruf ist, dann scheint er sich an Staaten zu richten, die sich des Potenzials, aber auch des potenziellen Scheiterns ihrer Regulierungsmacht - durch Eingliederungspolitik, nationale Ansätze zur Sozialfürsorge usw. - bewusst sein sollten, um Humankapital zu strukturieren. In Bezug auf die Migration syrischer Familien in den "Westen" entwickelte Gowayed einen theoretischen Ansatz mit darüber hinausgehenden Implikationen.
Eine der Geschichten, die Gowayed während des Vortrags erzählte, handelte von einer Frau, die in Syrien jede Vorstellung von einer Arbeit außerhalb des Hauses aufgegeben hatte und die im neuen Kontext nach der Emigration nun eine unvorhergesehene Arbeitsmöglichkeit erhält. Viele andere Geschichten gehen in die umgekehrte Richtung. Qualifikationen, ob zertifiziert oder nicht, können in einem neuen, rätselhaften Arbeitsmarkt hinwegschmelzen. Walter Benjamin, der aus Nazi-Deutschland emigrierte, schrieb einmal, dass es in Prozessen des schnellen Wandels von Vorteil sein kann, weniger Gepäck zu haben.
Martin Wolf