Dr. Dr. Carolina Alves Vestena ist im April als Co-Leiterin der Forschungsgruppe Legitimation and Delegitimation in Global Cooperation zum Kolleg gestoßen und wird bis zum Antritt einer Vertretungsrofessur an der Universität Kassel im Oktober zur Forschungsagenda des Kolleg beitragen. In einem kürzlich geführten Interview sprach Dr. Dr. Vestena über ihre intensive Ausbildung in den Bereichen Rechtswissenschaft, Rechtssoziologie und Politikwissenschaft sowie ihre Forschungsschwerpunkte, welche Perspektiven sie in das Kolleg einbringt und welche Pläne sie für die Zukunft hat.
Die gebürtige Brasilianerin erwarb 2009 ihren ersten Abschluss der Rechtswissenschaften an der Universität von Rio Grande do Sul in Porto Alegre, gefolgt von einem Master in Rechtssoziologie an der Fundação Getulio Vargas in Rio de Janeiro im Jahr 2010. Ursprünglich wollte sie Richterin werden, doch dann verlagerte sich ihr Schwerpunkt auf das Studium der "Rechtspraxis", in anderen Worten wie Recht angewandt wird, auf wen und mit welchen Befugnissen.
Ich wollte keine Entscheidungen über das Leben anderer Menschen treffen. Ich wollte verstehen, warum das Recht in der Gesellschaft so wichtig ist und warum es so viel Einfluss auf das Verhalten von Personen und Institutionen hat.
Ihre direkte Arbeit mit Gemeinschaften in Porto Alegre trug wesentlich zu einem frühen soziologischen Verständniss der Rechtspraxis bei. Carolina verweist auf ein Konzept, das sie als "popular lawyering" in Brasilien bezeichnet: Anwälte, die mit marginalisierten Gruppen und Einzelpersonen arbeiten - Menschen, die in Armut leben, die keinen oder nur begrenzten Zugang zur Justiz haben. Sie begann, an Projekten mit sogenannten "Law-Clinics" zu arbeiten, die sich speziell mit marginalisierten Gruppen in Bereichen wie Migrationsrecht, Erbschaft und Zugang zu Renten befassen.
Während ihres Masterstudiums studierte Carolina Rechtssoziologie mit Fokus auf Soziologie der Justiz. Das interdisziplinäre Programm bot mehrere Perspektiven durch die Vermittlung der rechtlichen Dimensionen von Verwaltung, internationalen Beziehungen und Wirtschaft. Rückblickend bezeichnet sie ihre Seminare aus dieser Zeit als eine Art teilnehmende Beobachtung.
Ich interessierte mich für dendie theoretischen Dimensionen der Dinge, für die Analyse der Prozesse und der gesellschaftlichen Dimensionen sowie für die Frage der Justizialisierung.
Während ihrer Promotion in Rechtswissenschaften an der Staatlichen Universität von Rio de Janeiro nahm Carolina auch an einem einjährigen Stipendium in Verbindung mit der Universität Kassel teil. Während dieser Zeit wurde sie von Sonja Buckel betreut, einer politischen Theoretikerin, die über eine materialistische Theorie des Rechts geschrieben hatte. Die Bekanntschaft mit Deutschland durch die deutsche politische Theorie war bereits ein integraler Bestandteil von Carolinas Studien während ihrer früheren Forschungen gewesen.
Durch ihre intensive Beschäftigung mit dem Recht im praktischen Sinne und ihr Interesse an der theoretischen Analyse des Rechts als Feld und als gesellschaftliches Phänomen integriert Dr. Dr. Vestena juristische Überlegungen mit denen soziologischer Prozesse. Ihr erster Forschungsschwerpunkt zielte darauf ab, ein Verständnis dafür zu entwickeln, wie diese beiden Bereiche miteinander verbunden und verschränkt werden können und was man aus diesen Verbindungen lernen kann. Ein weiterer wichtiger Forschungsbereich und Schwerpunkt ihrer zweiten Doktorarbeit sind soziale Bewegungen. Die Arbeit in den bereits erwähnten brasilianischen Rechtskliniken gab den Anstoß zu verstehen, wie kollektive Organisation kollektive Macht erzeugen kann. Hier lautete die Hauptfrage: "Wie nutzen soziale Bewegungen rechtliche Mittel, um ihre Ziele zu erreichen?"
Carolinas jüngstes Forschungsprojekt "Digitale Tools und Interessenorganisation im Globalen Süden" fand im Rahmen des INEF (Institut für Entwicklung und Frieden, Universität Duisburg-Essen) und in Zusammenarbeit mit Christian Scheper statt. Das Projekt begann mit dem Ziel zu verstehen, wie die Digitalisierung zur Veränderungen der globalen Wertschöpfungsketten in der Kaffee- und Textilindustrie in Brasilien beiträgt. Während der Voruntersuchungen erweiterten die Forschenden jedoch den Fokus aufgrund der Dynamik und der empirischen Realitäten, die sie vor Ort beobachteten, insbesondere in Bezug auf die Arbeitenden und die Arbeitsbedingungen.
Wir sahen viele Migrantinnen, "People of Colour" und verarmte Menschen in diesen extrem prekären Arbeitsverhältnissen; diese Bevölkerungsgruppen bieten einen Einblick in die verschiedenen Arten von Diskriminierung, die sie im täglichen Leben erfahren. Uns wurde klar, dass auch sie in das Forschungsprojekt einbezogen werden sollten.
Am 19. Juni wurde die Förderung von Carolinas neuestem Forschungsprojekt offiziell von der Hans-Böckler-Stiftung bestätigt. "Rechtskämpfe entlang transnationaler Lieferketten" ist ein zweijähriges Projekt, bei dem Dr. Dr. Vestena (unter anderen) mit Christian Scheper (INEF) und Sonja Buckel (Fachbereich Politikwissenschaften, Universität Kassel) zusammenarbeiten wird.
Das Projekt knüpft an unsere bisherige Forschung am INEF im Zusammenhang mit digitalen Werkzeugen und Arbeitnehmerorganisationen im Globalen Süden an. Nun möchten wir jedoch analysieren, wie das neue deutsche Lieferkettensorgfaltpflichtsgesetz (LkSG) die Bedingungen für kollektive Akteure, wie z.B. NGOs oder Gewerkschaften, auf nationaler und transnationaler Ebene verändert, um sich mit rechtlichen Strategien für eine sozial-ökologische Transformation (im weiteren Sinne) und im kleineren Sinne für bessere Arbeits- und Umweltbedingungen bei der Produktion und Zirkulation von Waren und/oder der Wertschöpfung entlang der Ketten einzusetzen. Das Projekt stützt sich auf Fallstudien von Rechtskämpfen vor dem neuen LkSG und auf die Analyse der aktuellen Umsetzung des Gesetzes, wobei wir die rechtsdogmatischen Debatten über das Gesetz und die Strategien, die bereits von Gewerkschaften, zentralen juristischen Akteuren und politisch artikulierten Akteuren im Bereich der Wirtschaft und des Menschenrechtsaktivismus gespielt werden, untersuchen werden.
- Andrew Costigan