Mauern als Gefahr für ein offenes Europa - ein neuer Essay von Volker M. Heins und Frank Wolff

Noch ein Buch über Migration? Über die neuerdings so genannte irreguläre Migration? So viel wurde schon gesagt, beklagt, gefordert, investiert. Die Autoren Volker M. Heins* und Frank Wolff wollen in einem kürzlich erschienen Essay auf eine Gefahr aufmerksam machen, die gewissermaßen im Inneren der Debatte um Migration lauert: die schleichende Erosion der offenen Gesellschaften in Europa. Die Errichtung von Mauern, so argumentieren sie, verschärft einen Konflikt, der sich "Hinter Mauern" in die Mitte solcher Gesellschaften hinein fortsetzt.

Mauern dienen als Projektionsflächen. Als Bausteine für das Weltbild umzäunter Bürgerlichkeit sind sie in unterschiedlichem Maßstab wirksam, oft innerhalb des Gemeinwesens, wie etwa jene gated communities, die Unterschiede im urbanen Raum markieren. Die US-amerikanische Philosophin Wendy Brown hat auf diese Zonen aufmerksam gemacht, die ein geordnetes Innen von einer chaotischen Außenwelt trennen sollen und doch gerade dadurch im Innern Unsicherheit und Ängste noch verstärken. Heins und Wolff möchten einen Schritt weiter gehen. Mauern sind nicht nur politische Projektionsflächen. Sie haben "ganz konkrete soziale und normative Auswirkungen", die im Hintergrund der tagespolitischen Aufregung die Strukturen europäischer Gesellschaften verändern.

Heins und Wolff wollen diesem Europa den Spiegel vorhalten. Doch was sie da sehen,  hat ein Doppelgesicht. Diese "eigentümliche Janusköpfigkeit des europäischen Versprechens" (55) verdankt sich der grundlegenden Ambivalenz dieses Versprechens von Frieden und Sicherheit, dem wie die Autoren sagen, "ein Drohung beigemischt" sei.
 

Immer deutlicher wird nämlich, dass die Europäer nur einander Frieden und Sicherheit versprechen, nicht jedoch Außenstehenden, die nicht zu diesem Europa gehören. Ganz im Gegenteil. Die EU-Staaten versprechen einander den Einsatz immer massiverer Gewaltmittel, um unerwünschte Migration abzuwehren. Immer offener droht die Union potentiellen Migranten aus dem Osten und Süden mit dem Einsatz dieser Mittel. Ebenso knüpft sie gute Außenbeziehungen zu deren Herkunftsländern daran, dass diese die Abschottungspolitik unterstützen. (55)


Hier argumentieren die Autoren mit der Europäischen Charta gegen die aktuelle Migrationspolitik der Union. Die in diesen Tagen in der Europäischen Kommission anstehenden Beschlüsse zur Verlegung von Anerkennungsverfahren in außereuropäische Herkunftsländer machen dieses Argument zusätzlich aktuell.

Das Buch ist besonders erhellend da, wo die zeitliche Dimension spürbar wird. Die Freizügigkeit, welche die Europäische Gemeinschaft im Inneren anstrebte, wurde bereits früh getestet. So waren die Bürger Algeriens vor der Unabhängigkeit  französische Staatsbürger. Europäer in einem vollständigen Sinne waren sie deshalb aber noch lange nicht. Auch in der aktuellen Migrationsdebatte sehen die Autoren eine seltsame Polarität am Werk. Das Plädoyer für eine "Förderung unserer europäischen Lebensweise" argumentiert mit "universalen Werten" und wird zur Kehrseite einer parallel unternommenen Aufrüstung des Grenzregimes. Die Autoren sehen im Spannungsverhältnis zwischen der Kommission (Ursula von der Leyen) und Ländern wie Polen und  Ungarn "zu einem guten Teil auch ein Spiegelverhältnis" (123). Sie identifizieren Trends in den letzten Jahren, die die Unwirtlichkeit der Grenzen gewissermaßen ins Landesinnere holen:
 

  • die Ausweitung des Grenzschutzes; die organisatorische und  budgetäre Aufwertung von FRONTEX sowie deren weitgehende Befreiung von Kontrollformaten und Berichtspflichten; die Duldung von sog. Bürgerwehren etwa in Bulgarien, Griechenland, Schweden oder Slowenien. (114)
     
  • eine schleichende Erosion des Rechtsstaats; etwa Einsatz von Militär gegen Migranten, Einschränkung von Pressefreiheit und ärztlicher Notversorgung, aber auch eine in der Tendenz veränderte Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EuGH), der zuletzt Pushbacks mehrfach für legitim erklärt hatte. (119)
     
  • eine weitere Tendenz sehen die Autoren in der zunehmenden Stigmatisierung und Kriminalisierung von Beihilfe und Beistand, etwa auch des Kirchenasyls. Hilfe in Grenzregionen wird zunehmend als Fluchthilfe gebrandmarkt, Helfer werden mit Schleusern gleichgesetzt. Die Rede ist von einer "Anti-Abschiebe-Industrie" (A. Dobrindt) (129).
     

Aber es gibt auch das Beispiel des französischen Olivenbauers Cèdric Herrou, der 2016 eine Familie aus Afrika an der italienisch-französischen Grenze aufnahm, sich darauf um etliche Migranten in ähnlicher Lage kümmerte und verurteilt wurde. Die Geschichte löste eine landesweite Debatte aus, zu der das französische Verfassungsgericht 2018 mit einem bemerkenswerten Urteil beitrug, indem es feststellte, dass sich aus dem "revolutionäre Grundsatz der Brüderlichkeit" die Freiheit zur humanitären Hilfeleistung ergebe, und zwar "ohne Ansehen der Rechtmäßigkeit des Aufenthalts des Geholfenen auf dem französischen Staatsgebiet." (132)  Immer wieder spielt die Justiz doch diese trendunabhängige Rolle, die man sich so sehr von ihr wünscht.

Wir fanden zwei weitere bemerkenswerte Argumente. Heins und Wolff meinen es sei gerade das fortwährende Scheitern des institutionelle Grenzregimes, welches Gelegenheit gebe, Bedrohung zu inszenieren und Budgets aufzustocken. Dazu stellen sie einen interessanten Vergleich an. In der Softwareentwicklung spricht man von Bugs, Fehlern des Programms, und Features, gewollte Leistungsmerkmale dieses Programms. Oft seien die Bugs absichtlich eingebaute Features. Bei der EU, so argumentieren die Autoren, sei es im Grunde genauso, nur dass man die Straftaten und Menschenrechtsverletzungen durch Grenzschutzbeamte eben als Einzelfälle entschuldige: bugs eben, und keinesfalls features. (79)

Was aber geschieht im Betrachter? Die "normativen Kraftlosigkeit des Faktischen" an den Grenzen berge die Gefahr einer Bestätigung der Gleichgültigkeit der Zuschauer*innen, die sich lieber der Pflege des eigenen Gartens zuwenden (zur Gartenmetapher: 144-5). Und so steht am Ende einer Kette von Argumente doch auch die Frage, was diese Entwicklung mit den Charakteren macht, den "neoautoritären Subjekten", die so anfällig sind für das "Theater der Migrationsabwehr", so schnell gekränkt und verbittert, so rasch bereit, abzugrenzen und abzuwerten. Das neoautoritäre Subjekt will nicht mehr die Welt erobern sondern sie sich vom Leib halten (nach Hartmut Rosa). (137 f., 151 f.)

Was bleibt also zu tun nach der Lektüre dieses vielschichtigen, engagiert freimütigen und im positiven Sinne ungeschützten Plädoyers für das offene Europa: nicht zuletzt die Arbeit an den Subjekten und die Arbeit der Subjekte an sich selbst.

* Prof. Dr Volker M. Heins leitete bis 2022 das Politikfeld "Global Governance of Migration" an diesem Kolleg.

 

Review: Martin Wolf

 

Zitieren

Volker M. Heins und Frank Wolff (2023). Hinter Mauern. Geschlossene Grenzen als Gefahr für die offene Gesellschaft, Frankfurt am Main: Suhrkamp.


Volker M. Heins

Volker M. Heins, geboren 1957, ist Permanent Fellow am Kulturwissenschaftlichen Institut Essen. Als Gastwissenschaftler war er unter anderem in Harvard, Jerusalem und Yale tätig. 2021 erschien sein für den NDR-Sachbuchpreis nominiertes Buch Offene Grenzen für alle. Eine notwendige Utopie.


Frank Wolff

Frank Wolff, geboren 1977, ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Historischen Seminar und am Institut für Migrationsforschung und Interkulturelle Studien in Osnabrück. Außerdem ist er Research Associate am Bard College in Berlin. 2019 erschien sein viel beachtetes Buch Die Mauergesellschaft. Kalter Krieg, Menschenrechte und die deutsch-deutsche Migration 1961-1989.