Die jüngste Ausgabe des alljährlichen Friedensgutachtens der führenden deutschen Friedensforschungsinstitute wurde unter der Überschrift "Noch lange kein Frieden" gestern auf der Bundespressekonferenz vorgesellt. Adressat der jährlichen Empfehlungen der Friedenforscher*innen sind die deutsche Bundesregierung und der Deutschen Bundestag, aber darüber hinaus die deutsche Öffentlichkeit. Die diesjährige Veröffentlichung geschieht in einem durchaus bemerkenswerten Moment. Denn die seit langem angekündigte neue Sicherheitsstrategie der Bundesregierung sowie eine unter der Federführung des Auswärtigen Amts zu formulierende Chinastrategie lassen auf sich warten. Zugleich wird vor dem Hintergrund des russischen Überfalls auf die Ukraine eine öffentliche Debatte über sicherheitspolitische Fragen geführt. Diese Themen, so weiss man in den beteiligten Friedensforschungsinstituten, sind derzeit in aller Munde.
Vor dem Hintergrund sicherheitspolitischer Handlungsunsicherheiten in der Politik können die Empfehlungen der Friedensforschungsinstitute mit einer gewissen erhöhten Aufmerksamkeit rechnen. So war Nicole Deitelhoff (HSFK Frankfurt) mehrfach in der Sendung "Anne Will" zu Gast. Sie präsentierte das Friedensgutachten gemeinsam mit Vertretern der anderen beteiligten Institute: Prof. Dr. Tobias Debiel (INEF – Institut für Entwicklung und Frieden, Universität Duisburg-Essen), Prof. Dr. Conrad Schetter (BICC – Bonn International Centre for Conflict Studies) und Prof. Dr. Ursula Schröder (IFSH – Institut für Friedensforschung und Sicherheitspolitik an der Universität Hamburg).

Auf der BPK nutzen die anwesenden Wissenschaftler*innen die Gelegenheit aber auch, um etwa vor der sicherheitspolitischen Vereinnahmung humanitärer Hilfe zu warnen. Sicherheitspolitische Argumente werden in der aktuellen Situation schnell auf scheinbar benachbarten politischen Handlungsfeldern wirksam und es sei eine Frage der langfristigen Glaubwürdigkeit, ob man dieser Verquickung der Aspekte nachgebe. Umgekehrt sehen die Forscher Felder friedenspolitischer Relevanz wie etwa die Wirtschafts- und Handelsbeziehungen, auf denen Verflechtungen grundsätzlich konfliktbremsend wirken. Hier wäre also ein konstruktiver Beitrag der friedens- und sicherheitspolitischen Betrachtung möglich. Sie formulieren hier eine bemerkenswert pragmatische, strategische Position:
… problematisch ist es, Diversifizierung und Flexibilisierung über Friendshoring zu betreiben, weil es … Exklusionsdynamiken freisetzen könnte.
Angesichts dieser Ausgangslage, in der zentrale Rohstoffe oder Komponenten nicht in geographischer oder politischer Nähe zu vernünftigen Konditionen zu bekommen sind oder aber selbst über Ausgrenzungsprozesse konflikttreibend wirken, braucht die kontrollierte Ent- und Verflechtung kein Friendshoring, sondern ein „Making-Friends-Shoring“. In einer Phase zunehmender Großmachtrivalitäten und einer generellen Polarisierung auf der globalen Ebene ist es friedenspolitisch geboten, integrative, kooperative Signale zu setzen. Das legt eine Strategie nahe, in Schlüsselbereichen und für strategische Rohstoffe Handelsabkommen und Partnerschaften mit Staaten des Globalen Südens anzustreben, sprich: Verflechtung zu befördern, auch wenn diese keine Demokratien sind. (118)
Das Friedensgutachten selbst ist um einen illusionslosen Blick auf die aktuelle Lage bemüht und fragt nach den Optionen und Handlungsspielräumen einer Friedenspolitik in Zeitenwendezeiten.
An erster Stelle steht hier die Überzeugung, dass ein Rüstungswettlauf unter allen Umständen verhindert werden müsse. Eine Rüstungsspirale sei im Moment noch nicht in Gang gesetzt, aber eine "virulente Gefahr" (Deitelhoff). Auch rhetorisch werde massiv aufgerüstet (Debiel). Einigkeit herrscht darüber, dass neue Akteure, insbesondere die BRICS-Staaten in Abrüstungsverhandlungen und entsprechende post-bilaterale Kontrollregime einbezogen werden müssen.
Dass hier neue Herausforderungen lauern, macht der Hinweis eines Journalisten auf die aktuelle Reise des Bundesverteidigungsministers nach Indien deutlich. Rüstungskooperationen mit Gegnern einer regelbasierten Ordnung sind fragwürdig (Schröder) und eine Anerkennung von Schwellenländern per Rüstungsdeal wäre generell problematisch (Debiel). In einer Phase des verstärkten Aufbaus von Kapazitäten auf dem europäischer Rüstungsmarkt wird die Einführung eines Rüstungsexportkontrollgesetz umso dringender, das die Forschung seit über einem Jahrzehnt fordert und es sieht nach wie vor nicht so aus, also werde das aktiv verfolgt (Schröder).
Nicht nur das Scheitern von Missionen in Afghanistan oder Mali (Schetter) sondern auch die Schwierigkeit der Politik, aktuellen Konflikten angemessen zu begegnen, und dies entsprechen zu kommunizieren, liefern aus Sicht der Wissenschaftler*innen ein starken Argument dafür, dass ein Gremium geschaffen wird, dass die deutsche Sicherheitspolitik in Europa koordiniert und integriert. Ob dies ein Nationaler Sicherheitsrat sein muss, nach dem es im Moment eher nicht aussieht, bleibt offen. Doch Beispiele wie der auf unerträgliche Weise unpräzise Umgang mit der Iranischen Republik, welcher die Glaubwürdigkeit feministischer Außenpolitik schwäche, die angesprochenen unklaren Rüstungsexportkriterien und auch die mehr oder weniger EU-konforme China-Strategie der Bundesregierung zeigen, das an der Schnittstelle zwischen politischer Analyse, fachlicher Bewertung und Exekutive ein Gremium Not tut, das diese Aufgabenvielfalt bündelt und die handlungsrelevanten Aspekte der Friedens- und Sicherheitspolitik in einem europäischen Horizont integriert.
Martin Wolf