Die jüngste Ausgabe des alljährlichen Friedensgutachtens der führenden deutschen Friedensforschungsinstitute wurde in der vergangenen Woche auf der Bundespressekonferenz vorgesellt. Diese Empfehlungen der Friedenforscher*innen richten sich an die deutsche Bundesregierung und den Deutschen Bundestag", wie Prof. Dr. Tobias Debiel (Ko-Direktor, KHK/GCR21 und INEF, Universität Duisburg-Essen) bei der Vorstellung bekräftigte. "Außerdem wollen wir einer kritischen Öffentlichkeit Orientierungswissen anbieten." Das Gutachten erscheint in einer Zeit der Unsicherheit und auch der Infragestellung, denn "der russische Angriffskrieg in der Ukraine hat die europäische Sicherheitsarchitektur zum Einsturz gebracht." Damit, so kann man sicher sagen, ist auch die Friedensforschung, vielleicht ganz besonders in Deutschland, selbst herausgefordert.
Die Autor*innen unternehmen den vor diesem Hintergrund besonders ambitionierten Versuch einer Einordnung der aktuellen Situation mit ihren Hintergründen, Komplexitäten und Querbezügen. Es geht ihnen darum, Konfliktlinien zu benennen und Schritte vorzuschlagen, wie die Politik einer drohenden Eskalation entgegenwirken kann. Zugleich machen sie mit dieser Publikation deutlich, dass neue Perspektiven auf die internationale Politik notwendig sind. Neben die Analyse aktueller Rüstungsdynamiken treten Beiträge, die sich mit den strukturellen Bedingungen einer nachhaltigen Friedensordnung auseinandersetzen: Perspektiven einer feministischen Außenpolitik und der Kontrolle von Sicherheitsinstitutionen - wie etwa Nachrichtendiensten - im demokratischen Prozess werden aufgezeigt.
Das Kapitel Institutionelle Friedenssicherung beschäftigt sich mit den Erfolgsbedingungen von Sanktionen. Die intendierten Ziele werden mit diesem Instrument selten erreicht. Ihr strategischer Wert könnte manchmal darin bestehen, dass Sanktionen neben Verhandlungen eine weitere nichtmilitärische Handlungsmöglichkeit zur Verfügung stellen. Das Gutachten sieht Sanktionen als Instrumente einer wertbasierten Außenpolitik. Sanktionen können breit geteilte politische Narrative generieren - auch Stereotype, wenn man an den Boykott von französischen Käse oder Rotwein denkt - und befinden sich nicht selten auf dem Level von PR-Kampanien. Doch das Gutachten mahnt, dass Folgen für die Innenpolitik und Zivilgesellschaft des sanktionierten Landes häufig nicht bedacht werden und fordert eine Aufstockung der Mittel für ein besseres Monitoring.
Die Konjunktur von Sanktionen in der aktuellen Situation lässt sich aber auch als Symptom interpretieren. Die nach dem Fall der Berliner Mauer entwickelte Sicherheitsarchitektur ist erschüttert. Rüstungskontrollverträge wurden einseitig aufgekündigt oder nicht verlängert. Im Kapitel Rüstungsdynamiken konstatieren die Autor*innen, dass es um die vertraglichen Sicherheiten seit Jahrzehnten nicht mehr so schlecht bestellt gewesen sei. Zugleich konstatiert die Forschung den Beginn eines neuen Rüstungswettlaufs. Mehrere Länder investieren in neue Überschallwaffen. Neue Verträge müssten weitere Akteure als Vertragspartner einbeziehen: China, Frankreich, Großbritannien. Das Gutachten schlägt der Regierung vor, dieser "Erosion internationaler Kontrolle" mit einem Entspannungsschritt zu begegnen, einem Risiko, das die Autor*innen für kalkulierbar halten und das darüber hinaus eine Verhandlungsposition eröffne. Deutschland solle sich aus der sog. "nuklearen Teilhabe" innerhalb der NATO zurückziehen. Es geht dabei um Mitspracherechte bei der Erarbeitung und Implementierung der Nuklearstrategie des Bündnisses und ganz konkret um die Stationierung US-amerikanischer Kernwaffen im Inland sowie die Bereitstellung nationaler Kampflugzeuge und Pilot*innen.
Der Abzug der US-Waffen auf europäischem Boden würde dem erklärten Verzicht auf Ersteinsatz Rechnung tragen und könnte mit einem russischen Verzicht auf Stationierung in Belarus verknüpft werden. (Friedensgutachten 2022: 104)
Das Gutachten spricht in diesem Zusammenhang von einer "Denuklearisierung der Abschreckung".
Im Kapitel Nachhaltiger Frieden: Gender, Diversität und Gewalt wirft das Gutachten einen Blick auf Situationen und Tendenzen struktureller Gewalt, wie sie quer zur Krieg-Frieden-Dichotomie beobachtet werden. So geht der Global Peace Index (GPI) über die bloße Erfassung militärischer Konflikte hinaus. Hier lässt sich ablesen, dass das Ausmaß gesellschaftlicher und politischer Unruhen zwischen 2011 und 2019 weltweit um 244 % zugenommen hat (72). Zahlreiche Staaten haben darin Gründe gesehen oder auch gefunden, eine verstärkt autoritär repressive Politik zu rechtfertigen. Die Autor*innen verbinden den Blick auf gesellschaftlich benachteiligte Gruppen, die von solchen Entwicklungen als erste betroffen sind, mit einer Analyse genderspezifischer Gewalt und bringen Beispiele dafür, dass friedenschaffende Maßnahmen diesen Aspekt nicht berücksichtigt haben bzw. berücksichtigen sollten (Exklusion in Friedensprozessen: Das Beispiel Sierra Leone, 79). Es gehört zu den bestürzendsten Tatbeständen des Themas überhaupt, dass Kriege nach wie vor von Männern ausgedacht, erklärt und ausgeführt werden. Das Kapitel über feministische Außenpolitik nimmt gewissermaßen den Ball auf, den die neue Bundesregierung im Koalitionsvertrag angestoßen hat. Während die Akzeptanz gegenüber Diversität in den vergangenen 20 Jahren deutlich gewachsen ist, persistieren diskriminierende Rechtssysteme, die ihren Ursprung in konservativ-reaktionären, religiösen und nationalistischen Wertesystemen haben. Die feministische Außenpolitik wird hier zum wesentlichen Element einer wertebasierten Außenpolitik gerade im Kontext eines bewaffneten Konflikts.
Sie legt Dynamiken offen, die imperiale Ansprüche aus einem gefährlichen Verständnis von Männlichkeit heraus begründen. Sie kann Perspektiven aufzeigen, die über die Renaissance von Abschreckung, Aufrüstung und Sanktionierung hinausreichen. (71)
Hier, so könnte man wünschen, liegt auch ein Ansatz zur Bearbeitung und Wandlung von Feindbildern aller Art, wie sie in der männlich aggressiven Politik hochkochen. Das geht von Darstellungen in Schulbüchern bis hinauf (oder hinunter) in die letzten Winkel der Diplomatie. Haben nicht eben die Staatschefs der G7 über einen gemeinsamen Ritt mit freiem Oberkörper gehn Russland gefeixt? Man hätte zu gern erfahren, was Ursula von der Leyen, Präsidentin der Europäischen Kommission und einzige Frau in der Runde, in diesem Moment durch den Kopf ging.
Das Friedensgutachten 2022 liefert eine gelungene Balance der Konzentration auf die aktuelle Situation ("Der russische Angriff auf die Ukraine verfolgt imperiale Ziele und trägt Züge eines Vernichtungskriegs") einerseits und der Einführung zusätzlicher Perspektiven auf allgemeine Rüstungsdynamiken, institutionelle und transnationale Konfigurationen, strukturelle und nachhaltige Aspekte einer Friedens- und Außenpolitik, die verstärkt mit regionalen Akteuren kooperiert. Handlungsoptionen umfassen konkrete Schritte der De-Eskalation ("No first use"), ein intensives Monitoring von Sanktionsregimen, eine grundrechtsorientierte Sicherheitspolitik auch in Krisenzeiten, aber auch der verstärkte Dialog vor Ort mit schwierigen Akteuren wie etwa dschihadistischen Gruppen.
Martin Wolf
Bonn International Center for Conversion (BICC), Leibniz-Institut Hessische Stiftung Friedens- und Konfliktforschung (HSFK), Institut für Friedensforschung und Sicherheitspolitik an der Universität Hamburg (IFSH) and Institut für Entwicklung und Frieden (INEF) (2022) (eds). Friedensgutachten 2022: Friedensfähig in Kriegszeiten, Bielefeld: Transcript. [Open Access]