Sie konstruierten eine Idee des Staates durch Daten: Ein Gespräch mit Borbala Zsuzsanna Török

Bei Gesprächen über das Globale geht es oft um die Gegenwart, vielleicht auch um die Zukunft. Historiker können hier eine besondere Position einnehmen, da neue Dinge für sie in der Regel nicht so neu sind und zeitgenössische Themen aus der Vergangenheit vertraut erscheinen können. Eine Kombination verschiedener zeitlicher Perspektiven kann jedoch zu unerwarteten Ergebnissen führen. Senior Research Fellow PD Dr. Borbala Zsuzsanna Török vom Historischen Institut der Universität Wien, deren Aufenthalt am Kolleg demnächst zu Ende geht, trug mit ihrem Forschungsprojekt "Kritik des liberalen Staates, Privateigentum und Rechtsreform: Erfahrungen des späten 19. Jahrhunderts und ihre Hinterlassenschaften" zur Forschungsgruppe des Kollegs über "Legitimation und Delegitimation in der globalen Zusammenarbeit" bei.

Zsuzsannas akademische Laufbahn begann in den 1990er Jahren, als nationalistische Studien in bestimmten Teilen der osteuropäischen akademischen Welt aufblühten. Von Anfang an interessierte sie sich für die nationalistische Rahmung der kulturellen Produktion. Während ihres Postgraduiertenstudiums an der Central European University in Budapest (heute Wien) untersuchte sie das Phänomen ausgiebig mit renommierten Wissenschaftlern wie Rogers Brubaker und Will Kymlicka. In ihrer Doktorarbeit beschäftigte sie sich mit regionalen Gelehrtengesellschaften (Landeskundevereine) in ihrer Heimatregion Siebenbürgen, wie sie auch andernorts Motor einer Nationalisierung" des modernen wissenschaftlichen Wissens und der Geisteswissenschaften waren. Seitdem interessiert sich Zsuzsanna für die sozialen Faktoren von Wissensbildung.

Die kulturelle Geografie dieser multiethnischen und mehrsprachigen Situation, die durch den mehr oder weniger aufdringlichen Nationalstaat geprägt wurde, war ein zentrales Thema meiner verschiedenen Forschungsprojekte.

In ihrem zweiten Buch, das zur Grundlage ihrer Habilitation wurde, übertrug Zsuzsanna ihre Erkenntnisse über die kleinere Region auf den Maßstab eines bestimmten Staatstyps. Dabei handelte es sich um die Habsburgermonarchie, ein zusammengesetztes Gemeinwesen, das sich aus lose miteinander verbundenen Teilen zusammensetzte, die alle unterschiedlich waren, aber auch einige gemeinsame Merkmale aufwiesen.
 

Die intellektuelle Herausforderung bestand nun darin, mit dieser Vielfalt umzugehen - und sie zu analysieren.

Konglomerate wie die Habsburgermonarchie waren ganz besondere politische Gebilde, weil sie wie ein System miteinander verbundener, halbsouveräner Ministaaten funktionierten. Der Umgang mit solchen politischen Gebilden erfordert mehrere Analysemaßstäbe, die die Kommunikation auf lokaler, regionaler und staatlicher Ebene berücksichtigen. Da die Habsburgermonarchie in die größeren europäischen akademischen und professionellen Kreisläufe eingebettet war, waren auch die interimperialen und globalen Wissenszirkulationen zu berücksichtigen. Dies war das Thema eines von ihr mit herausgegebenen Bandes (siehe rechte Spalte).

Zsuzsannas zweites Buch befasst sich mit der Geschichte der Statistik seit dem Ende des 18. Jahrhunderts. Ursprünglich handelte es sich dabei um eine enzyklopädische Sammlung von empirischem Wissen über den Staat, die ihre Wurzeln in der deutschen Aufklärung hatte. Die universitäre Disziplin "Statistik" (das 19. Jahrhundert prägte den zunehmend pejorativ klingenden Begriff "Staatenkunde", um sie von der numerischen Verwaltungsstatistik zu unterscheiden) oder die Anwendung der "Staatswissenschaft" auf einen bestimmten Staat war Teil dessen, was man heute als "wissensbasiertes Regieren" bezeichnen würde, d. h. eine Art des Regierens, die nicht von der Person des Herrschers abhängt, sondern von der Wissenschaft in ihrem modernen Sinn.  
 

Die Idee war, dass die Statistik das Wissen über alle Tätigkeitsbereiche eines Staates in einer enzyklopädischen Weise organisiert.

Zwei Einsichten sind bemerkenswert. Erstens gibt es ein Element der Vorstellungskraft.

Die Praktiker der "Statistik" stellten sich den Staat als eine territorial definierte Einheit mit diskreten und kontrollierbaren Grenzen vor, bevor solche Grenzen und Kontrollen tatsächlich existierten. Sie beschrieben diesen Raum und seine Bewohner so gut sie konnten. Jahrzehntelang war es eine Art Sport unter Statistikern, die Größe des Staates zu ermitteln, weil es diese Informationen einfach nicht gab, oder wenn doch, dann waren sie für die Öffentlichkeit nicht zugänglich.

Zweitens entwickelte sich ein gewisses Spannungsverhältnis zwischen den Statistikern und den Mitgliedern der regionalen und zentralen Verwaltung, denn die Bürokratien waren zu dieser Zeit recht verschwiegen, was damals nichts Ungewöhnliches war. Ungewöhnlich war vielmehr die Initiative (die in der Habsburgermonarchie in der neuen Gesetzgebung der aufgeklärten Herrscher Maria Theresia und ihres Sohnes Joseph II. zum Ausdruck kam), die Statistik an den Hochschulen einzuführen und den Gelehrten den Zugang zu den für die Erstellung statistischer Lehrbücher notwendigen Daten zu ermöglichen.  


Török, Zsuzsanna B. (2021). ‘Statistik’ as State Building in the Habsburg Monarchy, ca. 1790–1880. Habilitation Manuscript, defended at the University of Vienna, 17.02. accepted for publication by Berghahn Publishers.


Zsuzsannas historische Herangehensweise an ein regionales Umfeld bietet Vergleichsmöglichkeiten zu den heutigen transnationalen Rahmenbedingungen. Zsuzsannas Forschungsprojekt am Kolleg führt vom habsburgischen Europa zum globalen Europa und wirft einen vergleichenden Blick auf die Kritik am kapitalistischen Eigentumsregime im 19. Jahrhundert.

Ausgangspunkt waren hier die wissenschaftlichen Biographien zweier Rechtsexperten, des Briten Henry Sumner Maine (1822-1888) und des Österreichers Eugen Ehrlich (1862-1922).  Maine, der acht Jahre lang als Rat der indischen Kolonialregierung tätig war, studierte die lokalen Dorfgemeinschaften und gilt als einer der Begründer der Rechtsanthropologie. Ehrlich gilt ebenfalls als Pionier der Rechtssoziologie, und auch er erforschte ethnographisch die multiethnische ländliche Gesellschaft seiner Heimatregion in der habsburgischen Bukowina. Beide sahen in der kapitalistischen Wirtschaft eine Bedrohung für diese Gesellschaften, und es stellt sich die Frage, ob es eine intellektuelle und politische Übertragungskette zwischen diesen beiden Persönlichkeiten und anderen Wissenschaftler*innen unterschiedlicher historischer, geographischer und kultureller Verortung gab. Was Maine und Ehrlich auch gemeinsam hatten, war ihre einflussreiche Position als Professoren und Personen, die in der staatlichen Bürokratie eingebettet waren. Sie kritisierten das System von innen heraus.
 

Diese Intellektuellen waren nicht Teil der politischen Linken, sondern gehörten dem liberalen Mainstream an. Sie wollten den Kapitalismus verbessern, nicht zerstören.  Insbesondere Maine hatte einen enormen Einfluss auf die Gesetzgebung, und seine Stimme wurde von Generationen von Kolonialverwaltern in Indien und Afrika gehört. Außerdem gab es nach den wirtschaftlichen und politischen Krisen der 1770er Jahre, als der Glaube an die Segnungen der kapitalistischen Marktwirtschaft und des kapitalistischen Eigentums tief erschüttert war, ein Publikum für solche internen kritischen Stimmen. Die Rechtshistoriker wandten sich zunehmend alternativen, insbesondere kollektiven Formen des Eigentums zu.

Maine steht am Anfang einer langen Reihe von Bemühungen, kollektives Eigentum als Korrektiv zu den zerstörerischen sozialen Auswirkungen des Kapitalismus zu legitimieren. Wie Paolo Grossi gezeigt hat, stieß Maine in Europa auf große Resonanz, und seine Ansichten bildeten die Grundlage für die Wiedereinführung des kommunalen Bodenrechts als soziale Schutzmaßnahme in Italien. Die Fallstudie deutet darauf hin, dass auch andere Länder auf der Grundlage ähnlicher Argumente solche Schutzmaßnahmen eingeführt haben könnten! Das Thema erinnert an die aktuellen Debatten über die globalen Gemeingüter, aber auch an die jüngere Institutionalisierung indigener Landrechte. Die jüngste "Wiederentdeckung" von Eugen Ehrlich und seiner Vision von bäuerlichen Gesellschaften, die sich an Rechtsgewohnheiten orientieren, hat teilweise mit diesem Kontext zu tun.

Die Art und Weise, wie der Regulierungsapparat Informationen als Grundlage für politische Entscheidungen generiert, hängt davon ab, was er über die (soziale) Umwelt weiß. Diese Praxis hat aber auch mit gegenläufigen Phänomenen zu tun, nämlich mit Vergessen und Unwissenheit. Als Research Fellow am Zukunftskolleg der Universität Konstanz organisierte Zsuzsanna mit ihren Kolleginnen und Kollegen Workshops zu diesen beiden Themen, die in Publikationen mündeten (mit Gunhild Berg und Marcus Twellmann eds. Berechnen/Beschreiben. Praktiken statistischen (Nicht-)Wissens 1750-1850. Berlin: Duncker & Humblot, 2015; "Memory, History, Forgetting, and the Chances of an Interdisciplinary Dialogue on Human Consciousness," in Giovanni Galizia and David Schulmann (eds.), Forgetting: An Interdisciplinary Conversation. Jerusalem: Hebrew University Magnes Press 2015, 314-322).
 

Produktion von Wissen findet immer in Bezug auf das statt, was wir noch nicht wissen, aber wir sind uns dieser Lücke bewusst und bemühen uns, sie zu füllen. In anderen Fällen sind wir uns nicht bewusst, dass wir wichtige Dinge nicht wissen. Diese können zum Beispiel bei der Risikokalkulation gefährlich sein.

Die Agnotologie befasst sich mit diesem Themenkomplex, den Zsuzsanna bei der Arbeit von Statistikern, insbesondere bei Wahrscheinlichkeitsberechnungen und Prognosen, für wichtig hält. Hier ist das Bewusstsein, dass unser Wissen begrenzt ist, wesentlich, "damit man weiß, wie man sich positionieren muss".
 

Schon die frühen Statistiker am Ende des 18. Jahrhunderts wussten dank ihrer theoretischen Modelle, dass es viele Dinge gibt, die sie noch nicht wussten. Sie machten sich ein Bild der Dinge anhand von Daten, auch wenn sie die Daten gar nicht hatten.

Es fällt schwer, hier nicht an Big Data zu denken, an die Erstellung von Szenarien und an viele andere brennende Fragen unserer Zeit. Zsuzsanna reflektiert schließlich über ihre Erfahrungen am Kolleg:
 

Ich habe sehr von den Themen profitiert, die in den Forschungsgruppen diskutiert wurden, insbesondere vom Weltsystemansatz. Das ist für eine Historikerin sehr anregend und erweitert meinen Blickwinkel. Nicht alle Historiker arbeiten mit der Weltsystemtheorie, was in meiner Disziplin völlig in Ordnung ist. Ich stelle fest, dass meine Kolleg*innen im IR anders denken, aber ich finde diese kognitive Dissonanz produktiv. Ein weiterer inspirierender Aspekt des GCR21 ist, dass sich die Politikwissenschaftler immer um die brennenden Fragen kümmern. Das hat mir sehr gut gefallen. Natürlich muss man als Historikerin auch über relevante Themen sprechen, sonst wird man nicht ernst genommen. Aber meine Disziplin hat eine distanziertere Haltung dazu.


Mit Zsuzsanna Török sprachen Martin Wolf und Andrew Costigan.


Török, Zsuzsana B. with László Kontler, Antonella Romano and Silvia Sebastiani (eds.) (2014). Negotiating Knowledge in Early-Modern Empires: a Decentered View. Studies in Cultural and Intellectual History, New York: Palgrave Publishers.


Research Project at the Centre

Borbala Zsuzsanna Török. Critique of the Liberal State, Private Property and Legal Reform: Late 19th Century Experiences and Their Legacies, project presentation online.