Migrationsnarrative jenseits sentimentaler Geschichten? Eindrücke aus Brasilien
Christine Unrau
“Es kann nicht einfach jeder in unser Haus kommen”, sagte der Brasilianische Präsident Jair Bolsonaro im Zusammenhang mit dem Rückzug Brasiliens aus dem Globalen Migrationspakt. Dabei bediente er sich der unter Rechtspopulisten weit verbreiteten Metapher der Nation als Haus, das von äußeren Eindringlingen geschützt werden muss.
Trotz dieser Rhetorik der Abschottung spielt Brasilien nach wie vor eine zentrale Rolle in der Aufnahme von Geflüchteten auf dem amerikanischen Kontinent, insbesondere seit der Verschärfung der venezolanischen Krise. Neben Venezulanern nimmt Brasilien auch Geflüchtete aus Kolumbien, Haiti, Angola, Syrien, dem Libanon, der Demokratischen Republik Kongo und vielen anderen Ländern auf.
In diesem Zusammenhang spielen zivilgesellschaftliche Organisationen eine wichtige Rolle, ebenso wie viele Universitäten, die Teil des akademischen Konsortiums Sergio Vieira de Mello sind. Diese bieten beispielsweise Zugang zu Hochschulbildung, erleichtern die Anerkennung von Abschlüssen, organisieren Portugiesischkurse und Rechtsberatung. Eine weitere wichtige Säule bilden Nichtregierungsorganisationen, die sich für die Belange von Geflüchteten einsetzen.
Wie ich während eines Aufenthalts an der Universidade Federal do ABC im Großraum São Paulo beobachten konnte, haben Protagonisten solcher NGOs ein elaboriertes Konzept der Bewusstseinsbildung für die Situation von Geflüchteten entwickelt. Ein Beispiel ist die NGO ADUS im historischen Stadtzentrum von São Paulo, die 2010 gegründet wurde. ADUS heißt auf Lateinisch „Zugang“ oder „Weg“ und das ist genau das Ziel der Organisation: Den Weg von Geflüchteten in ein neues Leben in Brasilien zu ebnen. Sie verbinden dabei Bewusstseinsbildung und direkte Unterstützung von Geflüchteten auf eine interessante Art: Während ihr Hauptfokus darauf liegt, die Integration von Geflüchteten in den Arbeitsmarkt zu fördern, organisieren sie auch Französisch- und Spanischkurse, die von Geflüchteten unterrichtet werden, sowie interkulturelle Workshops.
Gleichzeitig betonen sie die Notwendigkeit, so viele Brasilianer*innen wie möglich zu erreichen und Vorurteile gegen Geflüchtete abzubauen. Wie ADUS Direktor Marcelo Haydu bei meinem Besuch erklärte, ist es dabei wichtig, nicht in Strategien der Viktimisierung zu verfallen. Diese sprechen Migrant*innen nicht nur eigene Wirkmächtigkeit ab, sondern würden auch unweigerlich die Frage „Und was ist mit uns Brasilianern?“ auslösen, zumal es in dem Land noch immer Regionen gibt, in denen Hunger eine tägliche Realität ist. Der Schwerpunkt müsse vielmehr darauf liegen, Brasiliens Geschichte als Einwanderungsland zu rekonstruieren und dabei zu betonen, dass Geflüchtete einfach Menschen sind. Was ihnen passiert ist, kann jedem passieren.
Interessanterweise betonte der ADUS Direktor, dass die Aufgabe, Geflüchtete als Personen zu repräsentieren und dabei ihre Wirkmächtigkeit und Stimme zu betonen, sehr ressourcenintensiv ist. Sie sollte daher aus seiner Sicht von Regierungen übernommen werden. In diesem Zusammenhang verwies er auf die Social Media Kampagne der Regierung von Dilma Roussef im Jahr 2016/2017, die von der Regierungskommission CONARE (Comitê Nacional para of Refugiados), geführt wurde. Zwar waren Texte und Bilder gut gemacht, aber die Kampagne bewegte sich nie aus der digitalen Sphäre hinaus, was auf die Halbherzigkeit gegenüber dem Thema auch auf Seiten der letzten Regierung verweist.

Vor diesem Hintergrund ergriff ADUS in Kooperation mit weiteren Partnern 2017 die Initiative für das Projekt Refugiados. Um lar chamado São Paulo (Geflüchtete. Ein Zuhause namens São Paulo). Es fand von März bis Mai 2017 in dem Einkaufszentrum “3” auf der Avenida Paulista im Stadtzentrum von São Paulo statt. Zu dem Projekt gehörten verschiedene Konzerte, Shows und Ausstellungen. Das Herzstück bestand aus einer Ausstellung von großformatigen Schwarz-Weiß-Portraits von Geflüchteten, die in São Paulo gelandet und mit ADUS in Kontakt getreten waren. Die frontalen Portraits des Fotografen Felipe Grespan hatten ihre eigene Ästhetik, die in gewisser Weise an die des Projekts The Gift des Künstlers Jochen Gerz erinnerte. Im Mittelpunkt von The Gift standen Schwarz-Weiß-Portraits von Bürgern verschiedener Städte, darunter auch einiger Obdachloser, die in San Francisco (USA), Le Fresnoy (Frankreich) und Dortmund aufgenommen und ausgestellt wurden. In beiden Projekten zeigten die Bilder Großaufnahmen von Individuen mit ihren jeweiligen Gesichtsausdrücken, die Stimmungen und Gefühle vermittelten, aber – abgesehen von einzelnen Details der Kleidung – keine weiteren kontextuellen Elemente. Im Gegensatz zu bekannten Bildern von Geflüchteten während der Strapazen der Flucht oder in den trostlosen Bedingungen nach ihrer Ankunft, abstrahierte die Ausstellung in São Paulo von diesen Kontexten. Obwohl einige Daten und Fakten über Flucht und Asyl in Brasilien Teil der Ausstellung waren, lag der Fokus auf den Individuen.
Dies kann auch als ein Umschalten von der Vergangenheit der Geflüchteten auf die Gegenwart als Moment der Offenheit und Möglichkeit verstanden warden. Es passt auch zur Aussage von Geflüchteten, wonach sie es leid seien, die Geschichte ihrer Flucht zu erzählen, weil es retraumatisierend sein kann und sie zu Symbolfiguren degradiert. Im Gegensatz dazu konzentrierte sich die Ausstellung, wie schon im Titel zum Ausdruck gebracht, auf das, was die Geflüchteten in der Gegenwart teilen, nämlich, dass sie ein Zuhause - „Um Lar“ in São Paulo gefunden hatten.
Es gibt eine Parallele zwischen dem Titel und der Ästhetik der Ausstellung und dem Musikvideo New Home der Reggae/Balkan/Folk Band Bukahara. Während das Lied die Geschichte vom Verlassen des eigenen Zuhauses und dem Finden eines neuen handelt, porträtiert das Video Menschen aus verschiedenen Orten, darunter Irak, Afghanistan, Äthiopien, Südkorea, Syrien, Aserbaidschan und Brasilien, die vor dunkelgrünen Leinwänden posieren und mitsingen. Erst im letzten Teil des Videos zoomt die Kamera heraus und zeigt einen größeren Ausschnitt davon, wo und wie die jeweiligen Personen ein neues Zuhause gefunden haben: jemand in einer hübsch eingerichteten Wohnung, jemand in seinem eigenen Kiosk, andere in weit prekäreren und schlichteren Umgebungen. Einige hingegen, haben (noch) kein neues Zuhause gefunden und stecken in Notunterkünften fest.

Dieser Ansatz steht für eine Alternative zu dem, was der pragmatistische Philosoph Richard Rorty unter „sentimental education“ (Rorty 1993: 122) oder „Gefühlserziehung“ verstanden hat: Danach kann Mitgefühl mit entfernten anderen nur durch „traurige und sentimentale Geschichten“ (ebd.: 118) heraufbeschworen werden. Wie die ikonisch gewordenen Beispiele von Alan Kurdi und Valeria Ramírez zeigen, können solche visuellen Narrative in der Tat sehr machtvoll sein, aber sie werfen auch Fragen auf, nicht zuletzt nach Heuchelei, politischer Instrumentalisierung und Voyeurismus, insbesondere dann, wenn schwarze und braune Körper exponiert werden.
Bukahara und ADUS zeigen: Geschichten, die bewegen, müssen nicht zwingend traurig sein. Natürlich können auch diese Geschichten mit (potentiellem) Happy End aus verschiedenen Gründen kritisiert werden: Sie enthalten möglicherweise eine Ästhetisierung des Leidens, ersparen dem Publikum die Konfrontation mit der harten Realität, die Flucht notwendig macht, und verstärken das, was Didier Fassien (2012: 252) die „erlösende Kraft“ der „humanitären Vernunft“ nennt. Diese steht für eine bestimmte Form der Erleichterung, die von einem exklusiven Fokus auf dem Leiden von Individuen ausgeht, wenn der Blick für die systemischen Ursachen des Leidens verstellt wird. Aus dieser Perspektive könnte auch das unmittelbare Umfeld der Ausstellung – ein Einkaufszentrum – weitere Evidenz dafür liefern, dass es um eine kommerzialisierte „Feel-Good“-Variante des Bewusstseins für Geflüchtete geht, um einen Lifestyle anstelle einer Überzeugung (vgl. auch Heins/Unrau 2018).
Obwohl all das nicht von Vornherein ausgeschlossen werden kann, sollte die ADUS Ausstellung nicht reflexartig des Bedienens von Heuchelei bezichtigt werden. Denn sie stellt Geflüchtete – und nicht selbst inszenierte Helfer – in ihren Mittelpunkt. Darüber hinaus ist die Ausstellung nur ein Teil der direkten Arbeit, die ADUS leistet. Schließlich, und allgemeiner, sollte die Angst vor dem Heucheleivorwurf niemanden davon abhalten, sich für andere einzusetzen. Wie Judith Shkalr (1984: 57) hervorhebt, ist Heuchelei nicht das schlimmste unserer Laster. Dieser Titel gebührt für sie der Grausamkeit, so wie die, die im Spiel ist, wenn die Tür für die verschlossen wird, die das Bedürfnis – und das Recht – haben, hereingelassen zu werden.
Verweise
Fassin, Didier (2012). Humanitarian Reason. A Moral History of the Present, Berkeley (CA): University of California Press.
Heins, Volker and Unrau, Christine (2018). ‘Refugees welcome: Arrival gifts, reciprocity and the integration of forced migrants,’ Journal of International Political Theory, 14(2) 223–239.
Rorty, Richard (1993). ‘Human Rights, Rationality and Sentimentality,’ in Steven Shute and Susan Hurley (eds.), On Human Rights. The Oxford Amnesty Lectures 1993, New York (NY): Basic Books, 111–134.
Shklar, Judith (1984). Ordinary Vices, Cambridge (MA) & London: The Belknap Press of Harvard University Press.
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