Zu Ehren von Amartya Sen, Initiator globaler Kooperation par excellence
Bettina Mahlert
Am 18. Oktober 2020 erhält Amartya Sen in Frankfurt am Main den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels. Dies ist ein willkommener Anlass, ihn aus dem nahe gelegenen Standort des Käte Hamburger Kollegs / Centre for Global Cooperation Research hier in Duisburg zu ehren. Ursprünglich aus dem heutigen Westbengalen stammend, wo er 1933 geboren wurde, studierte Sen Wirtschaft und Philosophie in Kalkutta und später in Cambridge. Er war Professor an zahlreichen Eliteuniversitäten in Indien, Großbritannien und den Vereinigten Staaten und erhielt neben vielen anderen renommierten Auszeichnungen den Nobelpreis für Wirtschaftswissenschaften. "Ich hatte nie einen nennenswerten nicht-akademischen Beruf", kommentierte Sen in seiner typisch bescheidenen Art seine beispiellose akademische Karriere. Seine Veröffentlichungen, die in der Wohlfahrtsökonomie und Philosophie verwurzelt sind, befassen sich unter anderem mit Armut und Ungleichheit, Entwicklung, Hungersnöten, dem Begriff des Lebensstandards sowie Freiheit, Demokratie und kollektiven Entscheidungen.
Während Sen's immense akademische Verdienste bei vielen Gelegenheiten hervorgehoben wurden, ist aus der Sicht des Centre for Global Cooperation Research bemerkenswert, dass er ein Initiator der globalen Zusammenarbeit par excellence ist. Ich beziehe mich hier auf die globale Kooperation, wie sie vom Kolleg in Duisburg verstanden wird, nämlich als "umfassende und intensive Zusammenarbeit zwischen zwei oder mehr Parteien bei der Lösung eines kollektiven Problems von globalem Ausmaß" (Centre for Global Cooperation Research 2020). Das kollektive Problem, auf das sich Sen während seines gesamten akademischen Lebens konzentriert hat, ist die Verbesserung des menschlichen Wohlergehens, insbesondere für die am meisten Benachteiligten, um so eine gerechtere und gleichberechtigtere Welt zu schaffen. Sen war der Ansicht, dass Akademiker und Akademikerinnen mehr und neue Wege der Zusammenarbeit über etablierte disziplinäre Grenzen hinweg brauchen, um effektiv zu diesem Gesamtziel beizutragen. Er konzipierte das Wohlergehen im Sinne von Verwirklichungschancen ("capabilities"), womit er die Freiheit meinte, wertvolle Funktionen oder Seins- und Handlungsweisen zu verwirklichen. Der Capability-Ansatz ist nicht nur immens einflussreich geworden, sondern ist speziell so gestaltet, dass er interdisziplinäre Zusammenarbeit ermöglicht.
Sen hat die Wohlfahrtsökonomie effektiv für Schlüsselthemen der Moralphilosophie geöffnet und einen Dialog zwischen den beiden Disziplinen angeregt, der sich über mehrere Jahrzehnte hinweg fortgesetzt hat. Wie viele andere empfand Sen eine tiefe Unzufriedenheit mit der langjährigen Konzentration auf das Bruttoinlandsprodukt (BIP) und damit verbundene einkommensbezogene Entwicklungsmaßstäbe. Aber es war Sen, der in Zusammenarbeit mit einer Gruppe anderer Ökonomen einen Raum der Zusammenarbeit für alle schuf, die diese Unzufriedenheit teilten. Auf der Grundlage seines Capability-Ansatzes führte das United Nations Development Programme (UNDP) 1990 den ihm zugrunde liegenden Human-Development-Ansatz ein. Wissenschaftlerinnen und Praktiker aus allen Disziplinen waren dabei ausdrücklich aufgefordert, ihre Ideen zur Verbesserung des vorgeschlagenen analytischen Rahmens einzubringen - und das taten sie auch. Heute reichen diejenigen, die mit Sen's Ideen arbeiten, von lokalen Praktikern, globalen Analystinnen, Aktivistinnen und Gender-Forschern bis hin zu Philosophinnen, Soziologen und Pädagoginnen, um nur einige zu nennen.
Wie ist es Sen gelungen, diese und andere bahnbrechende Formen der globalen Zusammenarbeit zu initiieren? Putnam (2004) bietet einige erhellende Einsichten. Erstens kritisierte Sen die Wirtschaftstheorie radikal und bestand gleichzeitig darauf, dass die wahrgenommenen Defizite innerhalb ihres allgemeinen Rahmens angegangen werden müssten. Indem Sen an diesem Rahmen festhielt, anstatt ihn ganz zu verwerfen, schätzte er die professionelle Identität seiner Kolleginnen und Kollegen und erleichterte ihnen so die Auseinandersetzung mit seinen Argumenten. Zweitens zwang Sen im Laufe der Jahre die Wohlfahrtsökonomie zu erkennen, dass ihr Hauptanliegen, das wirtschaftliche Wohlergehen, moralischer Natur ist und nicht in verantwortungsvoller Weise angegangen werden kann, solange Ökonomen und Ökonominnen sich weigern, moralphilosophische Argumente ernst zu nehmen. Damit riss Sen die Mauern zwischen Ökonomie und Philosophie nieder, die die Ökonomie so bequem vor der unübersichtlichen und politisierten Welt der Bewertung abgeschirmt hatten. Er erreichte dies, indem er an die zentrale Wertbindung seiner Zuhörerinnen appellierte - wissenschaftliche Solidität. Um seine Kollegen mit wissenschaftlichen Argumenten zu überzeugen, setzte er sich unermüdlich dafür ein, alle verfügbaren Beweise zusammenzutragen. Indem er einen ganzheitlichen Ansatz verfolgte, zeigte Sen auf, wie schwach Geld und BIP als Messgrößen für das wirtschaftliche Wohlergehen sind. Genauer gesagt zeigte er auf, wie begrenzt die Informationsbasis der Ökonomen sein wird, wenn sie keine Informationen über die verschiedenen Fähigkeiten sammeln, die das gleiche Einkommensniveau unter verschiedenen Bedingungen ermöglicht:
'The relationship between income and capability [is] strongly affected by the age of the person (e.g. by the specific needs of the very old and the very young), by gender and social roles (e.g. through special responsibilities of maternity and also custom-determined family obligations), by location (e.g. by the proneness to flooding or drought, or by insecurity and violence in some inner-city living), by epidemiological atmosphere (e.g. through diseases endemic in a region), and by other variations over which a person may have no - or only limited - control' (Sen, zitiert nach Putnam 2004: 57).
Indem er u.a. soziale Rollen und Überschwemmungen mitberücksichtigt, lädt dieser ganzheitliche Ansatz zahlreiche andere Disziplinen ein, in den Prozess der interdisziplinären Zusammenarbeit einzutreten. Drittens hat Sen nicht nur andere kritisiert, sondern selbst einen konkreten Vorschlag - den Capability-Ansatz - angeboten, um die wahrgenommenen Defizite zu beheben.
Sen's Bemühungen wurden reichlich entlohnt. Um ihre künftige Wirkungskraft noch zu stärken, möchte ich einige Vorschläge aus meinem persönlichen Hintergrund in der soziologischen Entwicklungsforschung hinzufügen. Soziologinnen haben Amartya Sen's Ansatz der Fähigkeiten gut aufgenommen; seine Einordnung in ihre analytischen Rahmen hat sich gut bewährt, insbesondere im Bereich der sozialen Ungleichheiten. Umgekehrt könnte es auch fruchtbar sein, die ökonomisch dominierte Entwicklungsforschung nicht nur für die Philosophie, sondern auch für die Soziologie und andere Sozialwissenschaften zu öffnen. In seinem Spätwerk über Ungleichheiten in Indien (zusammen mit Drèze) baute Sen grundlegend auf soziologischem Wissen auf; dies bleibt jedoch in der Wohlfahrtsökonomie eine Ausnahme.
Sen hat sich immer geweigert, universelle Verwirklichungschancen zu identifizieren, die für jeden Menschen wertvoll sind. Stattdessen sollten Einzelpersonen und Gruppen selbst die „capabilities“ identifizieren, die sie realisieren möchten. Die Institutionalisierung dieser Reflexion ist ein wichtiger Hebel, um den Menschen am "empfangenden" Ende der sogenannten Entwicklungszusammenarbeit eine aktive Rolle in ihrer eigenen Entwicklung zu geben. Gleichzeitig haben Wissenschaftler starke Argumente dafür vorgebracht, dass wir uns in der Entwicklungsforschung und der Politikanalyse auf elementare universelle Fähigkeiten beziehen müssen und auch können - wie etwa menschliche Grundbedürfnisse nach Nahrung und Unterkunft, Sicherheit, sozialer Anerkennung oder Selbstverwirklichung. Im Einklang damit kombinieren viele Projekte und Studien mit Affinität zum „Human-Development“-Ansatz beides – se setzen zunächst die elementaren Grundlagen prioritär und geben auf dieser Grundlage spezifischen, von den jeweiligen Gruppen gewünschten Verwirklichungschancen Raum. Ein Beispiel wären die Arbeiten von Sabina Alkire zu einem sogenannten "vital core" von Verwirklichungschancen (vgl. Martin 2020). Hier könnte die Soziologie relevante Methoden und Denkweisen einbringen (Mahlert 2020). Der Rückgriff auf diese wissenschaftlichen Ressourcen würde zu Sen's oben erwähnten holistischen Ansatz passen. Um ihn möglichst effektiv umzusetzen, kann dieser Ansatz auf die spezifischen Ziele zugeschnitten werden, um die es in dem jeweiligen Entwicklungsprojekt geht. Für jedes einzelne Projekt kann ein interdisziplinäres Team zusammengestellt werden, das Fachleute aus jenen und nur jenen Disziplinen auswählt, die für die spezifischen Ziele relevant sind.
Abschließend ist festzustellen, dass dem Capability-Ansatz ein gewisser westlicher Bias innewohnt, der sich in der Betonung der individuellen Freiheit widerspiegelt. Dies könnte erforderlich gewesen sein, um überhaupt Wohlfahrtsökonominnen für Sen's Anliegen ins Boot zu holen. Heute ist dies jedoch nicht mehr notwendig. Der Weg nach vorn in der globalen Kooperation zugunsten menschlichen Wohlergehens besteht darin, den globalen Süden gleichberechtigt einzubeziehen.
Literatur
Centre for Global Cooperation Research (2020). Research Agenda 2018-2024: Pathways and Mechanisms of Global Cooperation (2018-2021).
Mahlert, Bettina (2020). Needs and Satisfiers: A Tool for Dealing with Perspectivity in Policy Analysis, European Journal of Development Research, forthcoming.
Martin, Mary (2020). Human Security Course e-learning, Module M1: The Vital Core of Human Security. http://humansecuritycourse.info/module-1-the-concept-of-human-security/vital-core/ (last retreived 13.10.2020).
Putnam, Hillary (2004). Fact and Value in the World of Amartya Sen. in: The Collapse of the Fact/Value Dichotomy and Other Essays. Cambridge: Harvard University Press, 46-64.
Contact
Communications Team
Bei Fragen stehen wir Ihnen gerne zur Verfügung. Wenn Sie einen Meinungsbeitrag verfassen möchten, schreiben Sie bitte eine E-Mail an
communications@gcr21.uni-due.de. Wir freuen uns darauf, von Ihnen zu hören.