Andrew Costigan: US-Präsident Biden hat behauptet, dass die US-Mission nie als 'Nation Building' gedacht war. Das führte zu einer Identitätskrise über die Dauer der Intervention. Was als Reaktion auf den 11. September als 'Krieg gegen den Terror' begann, wurde im Nachhinein als Entwicklung, Stabilisierung und Krieg bezeichnet. Können Sie diese Verwirrung der Ziele nachvollziehen? Wie hat das Militärbündnis in Afghanistan die Werte verteidigt, auf die wir so stolz sind?

Prof. Dr. Tobias Debiel: Im Nachhinein kann man den Eindruck gewinnen, dass die gesamte Afghanistan-Intervention ein großes Experiment war, bei dem externe Akteure die Ziele ständig angepasst haben. Man muss aber berücksichtigen, dass die Legitimation der Intervention von Anfang an bei den westlichen Akteuren unterschiedlich war. Für die USA war die Intervention ein 'Krieg gegen den Terror', aber auf europäischer Seite, insbesondere in Deutschland, wurde betont, dass für eine mittel- oder langfristige Perspektive die Nationenbildung und das Peacebuilding in den Vordergrund rücken müssten. Die Nationenbildung war in den ersten zehn Jahren der Intervention tatsächlich einwichtiges Ziel. Als jedoch klar wurde, dass der Erfolg begrenzt war, wurde die Intervention tendenziell zu einer Stabilisierungsmission. Die Bundesregierung vermied übrigens lange Zeit bewusst den Begriff 'Krieg' - was eine offene und transparente Debatte zusätzlich erschwerte. Eigentlich verdenke ich es den Intervenierenden nicht, dass sie die Zwecke angepasst haben. Aber die zugrundeliegende Hybris war hochproblematisch. Ein sozialtechnokratisches Steuern von oben nach unten konnte in Afghanistan nie Erfolg haben, zumal die lokalen Gegebenheiten vernachlässigt und nicht ausreichend berücksichtigt wurden.

Prof. Dr. Herbert Wulf: Wir müssen uns daran erinnern, dass es am Anfang eigentlich zwei parallele Missionen gab, die eine hieß 'Enduring Freedom', die eindeutig mit dem Krieg gegen den Terror verbunden war, und die zweite war die UN-mandatierte ISAF (International Security Assistance Force). Man konnte also von Anfang an deutlich sehen, dass es zwei Missionen gab und die verschiedenen beteiligten Regierungen unterschiedliche Vorstellungen davon hatten, welche Ziele sie in Afghanistan verfolgten.
Prof. Dr. Tobias Debiel: Das ist ein entscheidender Punkt. Gleichzeitig stand die eher zivil ausgerichtete ISAF-Mission immer im Schatten von Enduring Freedom, und viele Afghanen haben das externe Engagement als eine einzige Intervention wahrgenommen.
Prof. Dr. Herbert Wulf: Was den zweiten Teil der Frage anbelangt, der sich auf die von Ihnen erwähnten Werte bezieht, so war es von westlicher Seite sehr lobenswert zu versuchen, die Terroristen unter Kontrolle zu bringen, den Aufbau von Nationen, die Demokratie, die Bekämpfung der Korruption usw. anzustreben. Aber die Schwierigkeit besteht darin, dies in einer Gesellschaft zu tun, die sich stark von den Werten unterscheidet, die wir selbst als wichtig erachten, wie Menschenrechte, Demokratie, Bildung für Mädchen, Korruptionsbekämpfung usw.. Es ist wichtig, dass wir uns zuallererst fragen, ob wir uns selbst an diese Werte halten. In Afghanistan war das sicherlich nicht immer der Fall. Zum Beispiel die zivilen Opfer bei wahllosen Luftangriffen, die Behandlung von Gefangenen in geheimen CIA-Gefängnissen, die Diskussionen um Rechtmäßigkeit oder Unrechtmäßigkeit von Folterung (einschließlich Waterboarding), die während der Bush-Regierung ein großes Thema waren. Ich denke, wir müssen unsere eigenen Werte genau beachten, bevor wir versuchen, sie auf eine Gesellschaft zu übertragen, der diese Art von Werten fremd sind. Ich halte ich es für wichtig, diese Werte aufrechtzuerhalten, aber wir sollten nicht erwarten, dass wir sie in die ganze Welt exportieren können. Eine auf Regeln basierete Ordnung ist zwar ein wichtiges Ziel, aber die Welt ist viel ungeordneter als unsere 'schöne westliche Ordnung'.
Andrew Costigan: Jetzt ist die Zeit für den Aufbau einer Nation und die Schaffung von Frieden in Afghanistan verstrichen. Wie sieht die Prognose aus Sicht der globalen Zusammenarbeit aus?
Prof. Dr. Tobias Debiel: Ich glaube nicht, dass die Chance für Peacebuilding generell völlig verpufft ist. Die Paradigmen haben sich im Laufe der Zeit geändert, und die Erfahrungen in Afghanistan werden zu einer weiteren Anpassung führen. Das Peacebuilding begann in den 1990er Jahren mit dem vielleicht naiven liberalen Paradigma, das Rechtsstaatlichkeit, Demokratie und Marktwirtschaft fördern sollte. Bald wurde deutlich, dass einige der Missionen ein robusteres Mandat benötigten. Später betonten viele Wissenschaftler, dass man die lokalen Mechanismen berücksichtigen müsse. Diese Einsicht wurde in der Praxis jedoch oft ignoriert. Ich würde behaupten, dass wir daraus Lehren ziehen und mindestens drei Imperative für künftige Friedensoperationen in Krisenregionen formulieren können: Erstens: Man kann nicht gleichzeitig einen Krieg führen und eine Nation aufzubauen versuchen. Wenn in einem Land immer noch Gewalt herrscht, ist die Stabilisierung vielleicht das realistischste Ziel. Das zweite ist das Gebot der Bescheidenheit und Reflexion; Peacebuilding und Friedenskonsolidierung sind keine sozialtechnokratische Übung, sondern bedürfen einer Interaktion zwischen internationalen und lokalen Akteuren. Drittens kann Geld zur Beendigung eines Krieges beitragen, weil man damit manchmal Konfliktparteien Anreize geben kann, auf Gewalt zu verzichten. Aber es trägt auch zu Korruption und Selbstbereicherung bei. Ein nachhaltiger Frieden kann also niemals dadurch erreicht werden, dass riesige Geldsummen in ein Land fließen.
Prof. Dr. Herbert Wulf: Ich habe gerade die Biographie von Obama durchgelesen, und er hat schon in den ersten vier Jahren seiner Amtszeit erwähnt, dass amerikanisches Geld in Afghanistan zur Korruption beitragen würde. Die US-Regierung war sich dessen bewusst, aber sie tat es weiter. Und der Westen war sich bewusst, dass er eine korrupte Regierung in Afghanistan unterstützte, eine Regierung mit sehr wenig legitimer Autorität.
Andrew Costigan: Professor Wulf, in Ihrem kürzlich erschienenen Artikel 'Afghanistan: Can We Learn from the Mistakes and Chaos?' schreiben Sie: 'Man wollte in Afghanistan eine demokratische Nation bilden, eine Gesellschaft, in der es keine legitime Zentralgewalt gibt und die von Stämmen und Stammesfehden, von dörflichen und religiösen Strukturen geprägt ist. Dieser Ansatz ist gründlich gescheitert, weil er von Anfang an unrealistisch war'. Wie hätte eine 'richtige' (wirksamere) Intervention aussehen müssen? Wie handeln die intervenierenden Nationen mit Verantwortungsbewusstsein, im Hinblick auf positive Intervention statt Erzwingung? Oder Integration, die echtes Verständnis in der Entwicklungszusammenarbeit signalisiert?
Prof. Dr. Herbert Wulf: Ich kann sehr gut an das anknüpfen, was Tobias gerade gesagt hat: Es ist unrealistisch, gleichzeitig einen Krieg zu führen und eine Nation in einer Gesellschaft aufzubauen. Das wird definitiv nicht funktionieren. Bei militärischen Interventionen sollten wir mehr auf das hören, was in den letzten drei bis vier Jahrzehnten ein Mantra in der Entwicklungszusammenarbeit war, nämlich 'local ownership', lokale Eigenverantwortung. Ohne lokale Eigenverantwortung kann man nichts erreichen. Wenn wir uns fragen, wie eine Intervention angemessener oder effektiver sein sollte, dann sollten wir zunächst einmal die Menschen fragen, was sie benötigen - welche Art von Hilfe sie wollen - und nicht versuchen, ihnen unseren Bezugsrahmen aufzuzwingen. Wie ich schon sagte, denke ich, dass die Welt ungeordnet ist und wir nicht erwarten können, dass sie so ist, wie es uns gefallen würde. Aber westliche Gesellschaften neigen immer dazu, die eigenen Vorstellung zum Maßstab zu machen. Wir müssen akzeptieren, dass es manchmal Situationen gibt, in denen man sich dem Dilemma stellen muss, dass man nicht wirklich helfen kann. Deshalb wäre ich viel zögerlicher als in den vergangenen zwei Jahrzehnten in Afghanistan, in eine solche Gesellschaft einzugreifen.
Andrew Costigan: Die rechten Medien in den USA haben den Abzug der USA aus Afghanistan als einen Einwanderungsnotstand bezeichnet: 'Erst marschieren wir ein, dann marschiert man bei uns ein'. Können Sie etwas zu den Auswirkungen auf die internationale Einwanderungs- und Außenpolitik sagen, insbesondere in Bezug auf die politische Rechte?
Prof. Dr. Tobias Debiel: Zunächst einmal finde ich es befremdlich, eine militärische Invasion mit der erzwungenen Flucht von Menschen in Gefahr gleichzusetzen. Sicherlich müssen wir uns der Tatsache stellen, dass viele Afghanen das Land verlassen wollen, vor allem diejenigen, die aus städtischen Gebieten kommen und aus der Mittelschicht stammen. Wie in den meisten Fällen werden die Nachbarländer am stärksten betroffen sein und nicht der Westen; daher halte ich es für zentral, diese Länder zu unterstützen. Für viele Afghanen wird es sehr schwierig sein, die riskanten Wege nach Europa oder sogar in die USA zu nehmen, aber einige werden dennoch erfolgreich sein. Ich sehe eine internationale Verpflichtung, diese Flüchtlinge aufzunehmen und zu integrieren. Wir sprechen, zum Beispiel in Bezug auf Deutschland, nicht von vielen Hunderttausenden, sondern wahrscheinlich eher von vielen Zehntausenden. Da der Westen die Verantwortung für die Situation in Afghanistan trägt, gibt es eine moralische Pflicht, entsprechend zu reagieren. International würde das bedeuten, dass wir uns auf Kontingente verständigen müssen, weil sonst einige Länder eine unverhältnismäßige Last tragen und andere eine Trittbrettfahrerposition einnehmen könnten.
Prof. Dr. Herbert Wulf: Ich möchte unterstreichen, was Tobias gesagt hat, dass viele der Nachbarländer von Pakistan bis zur Türkei viel stärker von Flüchtlingen betroffen sind als wir. Ich finde unsere Diskussion hier in Europa über ein paar Tausend Flüchtlinge (oder sogar ein paar Zehntausend), die hier ankommen, ziemlich verlogen und deshalb denke ich nicht, dass das eine relevante Diskussion ist, obwohl ich mir der Tatsache bewusst bin, dass ähnlich wie in den USA rechtsgerichtete Gruppen in Europa versuchen, von der Betonung des Einwanderungsthemas zu profitieren.
Andrew Costigan: In den deutschen Medien gibt es eine heftige Debatte über die Behandlung afghanischer Ortskräfte und ihre Bemühungen, deutsche 'Rettungsvisa' (mein Begriff) zu erhalten, um den Bedrohungen vor Ort zu entkommen. Manche sagen, dass Deutschland diese Menschen im Stich lässt. Können Sie die Rolle der deutschen Bundesregierung in dieser Angelegenheit kommentieren?
Prof. Dr. Tobias Debiel: Die späte deutsche Reaktion ist wirklich ein moralisches Debakel, und es bedarf weiterer Untersuchungen, um herauszufinden, wer dafür verantwortlich ist. Offenbar haben die Nachrichtendienste den schnellen Erfolg der Taliban größtenteils nicht vorhergesehen. Dennoch müssen Politiker meiner Meinung nach immer in Alternativszenarien denken. In einer so brisanten Situation muss man auch damit rechnen, dass weniger wahrscheinliche Szenarien Realtät werden könnten. Außerdem würde ich argumentieren, dass es viele Anzeichen dafür gab, dass die afghanische Nationalarmee nicht wirklich in der Lage sein würde, die Taliban wirksam zu bekämpfen, weil ihre Loyalität gegenüber einer korrupten Regierung immer begrenzt war. Die Motivation für die zögerliche deutsche Reaktion war vermutlich eine doppelte. Bundeskanzlerin Merkel räumte im Bundestag ein, dass die Bundesregierung nicht signalisieren wollte, ein schnelles Scheitern der Mission stehe bevor. Ich denke, ein zweiter Punkt ist auch wichtig: Ende September sind in Deutschland Wahlen, und man kann vermuten, dass die Regierung auch eine weitere Diskussion über Flüchtlinge vermeiden wollte.
Prof. Dr. Herbert Wulf: Tobias, inwieweit denkst du, dass es auch organisatorische Inkompetenz und Bürokratismus sind, die zu dieser katastrophalen Situation der Ortskräfte geführt haben? Mein Eindruck ist, dass die vier beteiligten Ministerien (das Auswärtige Amt, das Innenministerium, das Ministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwickung und das Verteidigungsministerium) alle ihre eigenen Aufgaben haben und versuchen, diese ordentlich zu erledigen, aber sie kooperieren nicht wirklich miteinander. Das ist das, was ich eine Silo-Mentalität nenne, und es endet mit dem, was ich in diesem Artikel 'organisierte Verantwortungslosigkeit' genannt habe. Jeder organisiert für sich effizient, aber das Endergebnis ist wirklich unverantwortlich. Glaubst du nicht, dass das viel mit der gegenwärtigen Situation zu tun hat?
Prof. Dr. Tobias Debiel: Ich stimme zu, dass dies ein Faktor ist, aber aus meiner Sicht ist es nicht der entscheidende. In dieser bürokratischen Rivalität hat das Innenministerium offensichtlich eine sehr restriktive Position eingenommen. Bis Anfang August haben viele argumentiert, dass man Afghanen in ihr Heimatland abschieben konnte, weil es angeblich Orte gab, wo sie Zuflucht hätten finden können. Ich denke, es sind zum Teil die bürokratischen Probleme, aber hinter diesen Problemen stehen auch Interessen, und das ist für mich der Hauptfaktor.
Andrew Costigan: Herr Professor Wulf, in Ihrem jüngsten Artikel für das Toda Peace Institute greifen Sie häufig auf Metaphern und literarische Bezüge zurück, um die psychologischen Implikationen der weitgehend unverständlichen Situation in Afghanistan zu beleuchten. Welche Rolle spielt Ihrer Meinung nach, das Narrativ (die Geschichten, die wir uns selbst erzählen), um die Gründe für das Scheitern zu verstehen und daraus zu lernen?
Prof. Dr. Herbert Wulf: Die beteiligten Akteure haben natürlich ihre Narrative, und im Allgemeinen halten wir gerne an unserem Narrativ fest. Wir vermeiden es, aus unseren Fehlern zu lernen, weil es ein sehr schmerzhafter Prozess ist, zuzugeben, dass man etwas falsch gemacht hat. Deshalb habe ich mich auf diese Geschichten bezogen, die sehr deutlich machen, dass wir oft nur das sehen, was wir sehen wollen. Deshalb habe ich mich auf die Geschichte von des 'Kaisers neuen Kleidern' bezogen, in der es um den Kaiser ging, der keine Kleider trug. Und niemand gab es zu, außer einem kleinen Jungen, der es laut rief. Wir wollten glauben, dass wir gute Arbeit mit guten Absichten leisten - wir bauen die Nation auf, aber wir sahen die Fehler nicht, die wir machten, und konnten daher nicht die richtigen Schlussfolgerungen ziehen. Wir haben geglaubt, dass mehr Geld, mehr Material, mehr Personal das Problem lösen würde. Zweitens: Wenn wir uns in einem Prozess befinden, bewerten wir diesen Prozess oft so, dass das Endergebnis positiv ist. Wir setzen immer wieder dieselben Methoden ein und merken deshalb nicht, wie wir in diese Katastrophe geraten. Ich glaube, dass einige der alten Geschichten uns tatsächlich helfen können, unser Handeln zu reflektieren. Und da diese Geschichten in der Öffentlichkeit bekannt sind, können sie uns sehr anschaulich sagen, was falsch gelaufen ist. Wenn ich 'Des Kaisers neue Kleider' erwähne, weiß jeder, was gemeint ist, und ich denke, es passt sehr gut auf die Situation in Afghanistan.
Prof. Dr. Tobias Debiel: Für viele deutsche Politiker war es bis vor kurzem fast unmöglich zuzugeben, dass der Afghanistan-Einsatz ein Beispiel für ein Scheitern ist. Zu viel war bereits investiert worden, und zu viele deutsche Soldaten waren gestorben, so dass es schwierig war, anzuerkennen, dass sich der Afghanistan-Krieg in einer Sackgasse befand - ein Begriff übrigens, den Herbert vor zehn Jahren für ein von ihm mit herausgegebenes Buch ('Afghanistan: Ein Krieg in der Sackgasse') verwendete.
Andrew Costigan: Die Taliban haben zweifelhafte Versprechungen zum Schutz von Frauen und gefährdeten Bevölkerungsgruppen während ihres derzeitigen Regimes gemacht. Inwieweit können diese Ankündigungen ernst genommen werden? Wie können Gewaltprävention und Friedenskonsolidierung beitragen, drohende oder bereits eingetretene Menschenrechtsverletzungen im Zusammenhang mit dem Wiederaufleben der Taliban-Herrschaft im Lande zu verhindern?
Prof. Dr. Tobias Debiel: Die Taliban sind kein homogener Block. Bereits in Afghanistan unterscheiden sie sich in Bezug auf Regionen und Stämme. Allgemeiner betrachtet gibt es mindestens drei Flügel: die eher gemäßigte politische Führung in Doha, die radikale und ideologische Fraktion in Pakistan und die Kämpfer in Afghanistan. Meines Erachtens verfolgen sie ein gemeinsames Ziel, nämlich die Errichtung eines Emirats auf der Grundlage einer fundamentalistischen, extremistischen Auslegung des Islam. Angesichts der Menschenrechtsverletzungen, die sie begangen haben, bezweifle ich, dass die gemäßigten Töne sehr glaubwürdig sind. Da wir nur wenige neutrale Beobachter und Journalisten vor Ort haben, fehlt es uns an verlässlichen Quellen für das, was in Afghanistan vor sich geht und gehen wird. Ich denke, der Westen steht vor einem echten Dilemma, wie er auf die Taliban reagieren soll. Hiermit meine ich nicht die Verhandlungen, die unvermeidlich und notwendig sind. Sondern es geht um die Frage möglicher Unterstützung: Aus menschenrechtlicher Sicht könnte man einfach die Entwicklungszusammenarbeit und eventuell sogar die humanitäre Hilfe einstellen, weil sie instrumentalisiert werden könnte, aber das würde auch Leid für die einfache Bevölkerung und noch mehr Flüchtlinge bedeuten. Außerdem hat man dann kein politisches Druckmittel. Alternativ könnte man ein an Bedingungen geknüpftes Hilfsprogramm anbieten, in dem man ein Mindestmaß an Anerkennung der Menschenrechte und der Rechtsstaatlichkeit fordert, um den Prozess des Staatsaufbaus unter der Führung der Taliban zu unterstützen. Dies würde jedoch die Legitimität der Taliban erhöhen. Ich persönlich bin sehr skeptisch, dass die Voraussetzungen für eine wirksame Hilfe gegeben sind. Daher würde ich empfehlen abzuwarten, ob die gemäßigten Verlautbarungen der Taliban wirklich vertrauenswürdig sind, und auf einer internationalen Menschenrechtsüberwachung bestehen. Ich bin mir aber bewusst, dass auch ein geopolitischer Faktor ins Spiel kommt: Russland und China versuchen, sich mit den Taliban zu arrangieren, und ich habe Sorge, dass dies auch die westliche Position beeinflussen wird.
Prof. Dr. Herbert Wulf: Man könnte noch hinzufügen, dass es eine Reihe von Regionalmächten gibt, die ihre Interessen verfolgen - Indien, Pakistan, Türkei, Iran, Irak, Usbekistan. Wir wissen nicht wirklich, was in den nächsten Monaten passieren wird, denn es gibt viele gegenläufige Interessen in Afghanistan. Es stimmt auch, dass es unter den Taliban selbst Schwierigkeiten gab, den richtigen Ansatz für die Regierung zu finden.
Prof. Dr. Tobias Debiel ist Professor für Internationale Beziehungen und Entwicklungspolitik an der Universität Duisburg-Essen (UDE), stellvertretender Direktor des Instituts für Entwicklung und Frieden (INEF) sowie Co-Direktor des Käte Hamburger Kollegs / Centre for Global Cooperation Research. Seine Forschungsschwerpunkte sind: Staatliche Fragilität und gewaltsame Konflikte, Friedenskonsolidierung nach Konflikten, Global Governance und internationale Interventionen, Entwicklungspolitik in kriegszerstörten Gesellschaften.
Ausgewählte Publikationen:
'Pluralisation of Authority in Post-Conflict Peacebuilding: The Re-Assignment of Responsibility in Polycentric Governance Arrangements', in Ulbert, Cornelia, Finkenbusch, Peter, Sondermann, Elena, Debiel, Tobias (eds.). Moral Agency and the Politics of Responsibility. London/New York: Routledge 2017, 135-150; (editor with Thomas Held and Ulrich Schneckener)
Peacebuilding in Crisis: Rethinking Paradigms and Practices of Transnational Cooperation. London/New York: Routledge 2016.
Prof. Dr. Herbert Wulf ist Professor für Internationale Beziehungen und ehemaliger Direktor des Internationalen Zentrums für Konversion Bonn (BICC). Derzeit ist er Senior Fellow am BICC, Adjunct Senior Researcher am Institut für Entwicklung und Frieden, Universität Duisburg/Essen, Deutschland, und Research Affiliate am National Centre for Peace and Conflict Studies, University of Otago, Neuseeland. Er ist Mitglied in den wissenschaftlichen Beiräten des SIPRI und des Zentrums für Konfliktforschung der Universität Marburg, Deutschland.
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